Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
Markey Cuffe plötzlich so gut aussah? Cuffo – so hatten ihn die anderen Jungs gerufen, wenn sie ihn für ein Spiel brauchten, aber sonst hieß er immer nur Spiderbrain , weil seine Arme und Beine so lang und dünn waren wie bei einer Spinne und weil er immer nur las. Dauernd steckt er die Nase in ein Buch, hieß es in Kilbride. Er hatte damals immer ungewaschene lockige Haare, und ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich unter diesen Locken ein wohlgeformter Schädel verbarg – den man jetzt deutlich sehen konnte, weil Markey seine silbergrauen Haare ganz kurz geschnitten hatte. Früher hatte er außerdem noch fürchterlich viele Pickel gehabt. Diese Pickel waren mir sofort aufgefallen, als ich mich zum ersten Mal mit ihm unterhielt. Ich war vierzehn, und wir standen auf den Stufen der kleinen Zweigstelle der Kilbride-Bibliothek, aus der man hinausgeworfen
wurde, wenn die Bibliothekarin keine Lust mehr hatte und lieber an den Spielautomaten hinten im Pub spielen wollte. Zu jener Zeit aß Markey kaum etwas. Er war so arm, dass die Mönche jeden Tag einen Laib Brot bereitlegten, damit er ihn nach der Schule abholen konnte. Er wohnte mit seiner Mutter in einer Hütte in der Gasse hinter unserem Haus und hatte keine ordentliche Kleidung, außer einem alten Herrenanzug, der ihm viel zu groß war. Einmal beobachtete ich, wie er in diesem Anzug dem Priester die Tür öffnete, als ich gerade aus dem Haus ging.
Damals gehörte es zu den Aufgaben eines Priesters, zu den Leuten ins Haus zu gehen, um den Kranken die heiligen Sakramente zu bringen. Der schwarze Talar wehte dem Geistlichen um die Knöchel, und er trug das Abendmahl in einer Art Silberschachtel vor sich her.
»Die Hostie. Nicht das Abendmahl«, verbesserte mich Markey, als ich mich später mit ihm darüber unterhielt. »Und die ›Schachtel‹ heißt Pyxis.«
Seit jeher liebte Markey ausgefallene Wörter, und es machte ihm großen Spaß, mich zu korrigieren. Außerdem war es ganz typisch, dass er in dem Zusammenhang nicht erwähnte, was mit seiner Mutter los war. Er redete nie über seine Familie.
Immer, wenn ich an ihn dachte, sah ich als Erstes seine grauen Augen vor mir – aber damals waren seine Augen längst nicht so leuchtend grau gewesen wie jetzt. Das lag daran, dass sich die Haut um die Augen herum verändert hatte – vielleicht weil er schon so lange in Seattle wohnte, wo man häufig draußen im Freien ist? Irgendwie war die Haut körnig und olivenbraun.
Er sah echt gut aus.
»Bist du so weit?« Er scharrte schon mit den Hufen. »Wenn wir nicht bald losgehen, können wir die andere Straßenseite nicht mehr sehen, wenn wir in der Canal Street sind, weil dort so viel Verkehr ist.«
Er wollte schon losgehen, aber dann fiel ihm ein, was die Höflichkeit verlangte.
»Wie geht es Min?«
Ich antwortete nicht gleich. Schließlich konnte ich ja nicht gut erzählen, dass sie mich noch nie so abgrundtief verbittert angeschaut hatte wie am Morgen vor meiner Abreise, als wir an den ärmlichen alten Frauen vorbeigingen, die vor dem Speisesaal des Sunshine Home Schlange standen. Eine der Frauen rief immer wieder mit herzerweichender Stimme: »Mammy! Mammy!«, und streichelte dabei die Tapete.
Ich wollte ihm auch nicht erzählen, dass ich beim Abschied als Letztes noch gemurmelt hatte: »Es tut mir leid, Min.« Und dass sie mich dann mit ihren Augen fixierte, als hätte sie mich noch nie gesehen – ohne ein Wort zu erwidern. Was hätte sie auch sagen sollen? Dabei hatte sie ein paar Abende vorher einen völlig anderen Auftritt hingelegt: Als im Fernsehen nordkoreanische Kinder gezeigt wurden, mit aufgequollenen Hungerbäuchen und spindeldürren Armen und Beinen, war ich in Tränen ausgebrochen. Daraufhin war Min aufgestanden, zum Fernseher gegangen und hatte einen anderen Sender eingestellt. »Alle Menschen müssen sterben, junge Frau!«, fauchte sie mich an. »Sie sterben. Oder sie werden entsorgt, weil man sie nicht braucht. Das Leben ist grausam .«
Oder hätte ich ihm gestehen sollen, dass ich gar nicht losfahren konnte, als ich danach ins Auto stieg, weil ich so zitterte? Plötzlich wusste ich überhaupt nicht mehr, ob ich das Richtige tat. In den letzten Tagen vor meiner Abreise ging Min nicht in den Pub – sie stand stattdessen frühmorgens auf und war schon draußen im Garten, ehe ich nach unten kam, pflanzte neue Blumen in Beete und Töpfe und in die kleine Zinkwanne. Diese Wanne hatte sie mit der Erde gefüllt, die sie etappenweise aus
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