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Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie

Titel: Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuala O'Faolain
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nach Hause nehmen, hakte sie sich gelegentlich bei mir unter, oder sie versuchte sogar, mich an der Hand zu nehmen, wenn wir die Straße entlanggingen. Aber das war mir immer extrem unangenehm. Ihre Finger fühlten sich an wie Klauen. Du willst das doch gar nicht, hätte ich dann immer am liebsten geschrien. Du hast getrunken. Mit Liebe oder Zuneigung hat diese Geste nichts zu tun. Ich sorgte dafür, dass sie mich möglichst schnell wieder losließ, und dabei war es mir egal, ob sie meine Absicht durchschaute oder nicht.
    Jetzt schaute ich ihr beim Schlafen zu. Sie lag auf der Seite, einen Arm über dem Gesicht, den anderen neben sich. Bevor sie sich hinlegte, hatte sie ihre wichtigsten Besitztümer zu sich aufs Bett geholt. Ihr zerbeultes Brillenetui aus Blech. Ihren Geldbeutel, dessen Leder so hauchdünn war wie Papier. Nicht weniger als sechs winzige Salz- und Pfefferportionen, die sie im Flugzeug an sich genommen hatte. Ein kleines Foto in einem Plexiglasrahmen: ein Schnappschuss von Reeny und Monty, wie sie an der Mauer zwischen unseren Gärten lehnten, zwischen ihnen Bell, die damals noch ein kleines Kätzchen war. Eine blaue Plastikflasche in Form der Madonna. Angeblich war sie mit Weihwasser aus Lourdes gefüllt. Mins Hand lag ganz dicht bei diesen Schätzen, als wäre sie bereit, sie unter Umständen blitzschnell zu verteidigen. Die Haut auf ihren Knochen war schlaff, der Handrücken übersät mit braunen Flecken.
    Wie bescheiden diese Habseligkeiten waren. Wenn ich sie betrachtete, erschien es mir vollkommen absurd, dass ich oft so
wütend auf Min war. Diese Hand mit den schmutzigen Fingernägeln war so klein und zart wie die eines Kindes. War Min nicht überhaupt sehr kindlich? Ich wusste, dass sie im Grunde nicht die geringste Ahnung hatte, wie eine Frau sich zu verhalten hatte – sie wusste nicht, wie sie sich anziehen musste, um attraktiv zu wirken, die Kunst des Small Talks war ihr absolut fremd, sie brachte es nicht fertig, all die unaufrichtigen kleinen Redewendungen zu benutzen, die jeder verwendete, und sei es nur aus reiner Höflichkeit. Diese Fähigkeiten hatte ihr niemand beigebracht. Ihre Mutter war gestorben, als sie zehn war, und ihre ältere Schwester, meine Mutter, hatte sich gleich darauf aus dem Staub gemacht.
    »Sie hat gesagt, sie geht fort«, hatte mir Min einmal zögernd erzählt. »Und als ich sie gefragt habe, warum, hat sie nur gesagt: ›Ohne Mammy will ich nicht hierbleiben.‹«
    Die Toten sprechen durch uns. So oder so ähnlich heißt es bei Freud.
    War es vielleicht möglich, die Dinge in dieser wunderschönen, ungewohnten Umgebung ein bisschen anders zu sehen als sonst? Zum Beispiel die Berührungen. Wollte Min, wenn sie auf dem Heimweg vom Pub nach meiner Hand griff, womöglich etwas sagen, was sie nicht auszudrücken vermochte, wenn sie keinen Alkohol getrunken hatte?
    Ich nahm ihre entspannte Hand und hielt sie einen Moment lang fest.
    Nichts. Keine unbekannten Gefühle, die mich überschwemmten. Ich empfand, ehrlich gesagt, überhaupt nichts. Trotzdem – dies war das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich Min freiwillig berührte.
     
    »Bier?«, fragte der Kellner. »Cobra-Bier aus Indien?«
    Min hätte Markeys Mutter sein können, so liebevoll hatte er ihr geholfen, als sie an dem Tisch im Shalimar Balti House Platz
nahm. Er hatte sich besorgt erkundigte, ob es ihr auch warm genug sei, und den Kellner herbeigerufen, damit er dem Gast aus Irland die Speisekarte erklärte.
    Ich war gespannt, was sie zum Thema Bier sagen würde. Die Kellner hier in Manhattan waren bestimmt nicht so wie Decco im Kilbride Inn, der Min den ganzen Nachmittag dort sitzen ließ und später dann auch noch einen der Männer, die auf dem Heimweg auf ein Glas Bier vorbeigekommen waren, bat, sie bis zu unserer Straßenecke zu fahren. Aber jetzt – ach, ich hoffte inständig, dass sie nicht zu viel trank! Sie sah so jung aus, als hätte sie sich während der schweren Jahre irgendwo versteckt, anstatt älter zu werden. Kerzengerade saß sie da, ihre Augen funkelten, und sie erklärte Markey ganz ausführlich, dass er für sie ein indisches Gericht bestellen müsse, das möglichst irisch schmeckte.
    Manchmal hatte sie auch zu Hause glänzende Augen – wenn sie aus dem Pub zurückkam. Aber diese Hochstimmung hatte nichts damit zu tun, wo sie war. Genau das Gegenteil war der Fall. Zu Hause entführte der Alkohol sie an einen Ort, wo sie nicht zu Hause war und wo sie nicht sie selbst sein

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