EB1021____Creepers - David Morell
Vierter.
Im fünften hielt er wieder inne, außerstande, sich von einem
Blick in den Geheimgang abzuhalten. Er erinnerte sich, ge‐
glaubt zu haben, dass er einen an die Wand gelehnten Gegen‐
stand dort gesehen hatte. Jetzt teilte ihm die Nachtsichtbrille
mit, dass er Recht gehabt hatte. Eine weitere Frauenleiche.
Blond. Vollständig bekleidet, diesmal mit Hosen, einem Roll‐
kragenpullover und einem Blazer. Nein, dachte Balenger. Die
Kleidung kam ihm bekannt vor. Nein.
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Er stolperte auf sie zu. Als eine Ratte auf ihrer Schulter auf‐
tauchte, holte er mit der Brechstange aus und schleuderte das
Tier gegen die Wand. Überwältigt von seinen Gefühlen, sank
er auf die Knie. Die Frau war nicht so vertrocknet wie die Lei‐
che im Erdgeschoss. Ihre Augen fehlten. Stücke waren aus ih‐
rem Körper herausgebissen worden, aber trotzdem war es ihm
unmöglich, das Gesicht nicht zu erkennen. Diane.
Kummer krampfte ihm die Brust zusammen und verschlug
ihm den Atem. Tränen brannten ihm wie Säure auf den Wan‐
gen. Von Schluchzern geschüttelt, hob er eine Hand, um ihr
ledriges Gesicht zu streicheln. Das blonde Haar reichte bis un‐
ter die Schultern, länger, als sie es mochte – weil es auch nach
ihrem Tod noch gewachsen war. Ihr Gesichtsausdruck war
eine Grimasse blanken Entsetzens. Wie bei der Leiche im Erd‐
geschoss waren die Halsknochen nach innen geknickt. Seine
Diane. Seine wunderbare Diane.
Er kniete dort, dachte an sie, trauerte um sie. Diane. Elf Jah‐
re waren sie zusammen gewesen. Sie hatte ihn niemals aufge‐
geben, war niemals müde geworden, für ihn zu sorgen, nach‐
dem er krank aus dem ersten Irakkrieg zurückgekommen war.
Er hatte versucht, es ihr zu vergelten, hatte versucht, sie wis‐
sen zu lassen, wie sehr er sie liebte. Seine süße, selbstlose Dia‐
ne. Seine wunderschöne Diane mit Bissspuren im Gesicht.
Ein Gewehrschuss holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Immer noch schluchzend, öffnete er ihre Handtasche, nahm
die Brieftasche heraus und schob sie in seine Windjacke. Er
küsste sie auf die ausgetrocknete Stirn, griff nach der Brech‐
stange und dem Funkgerät und ging die Treppe hinauf.
Die Wut drängte ihn, zu rennen, aber damit würde er Ron‐
nie in die Hände spielen, dem Dreckskerl gestatten, ihn zu
manipulieren, und er würde Fehler machen. In Gedanken
brüllte er: Ich komme dich holen, Ronnie. Die Brechstange
schlagbereit in der Hand, erreichte er den Gang im sechsten
Stock und musterte die Trümmer von Danatas Wohnzimmer.
Die Eingangstür war immer noch mit den Möbeln verbarrika‐
diert. Er stieg hinauf zu der Falltür. Hinter ihr hörte er Lärm,
rennende Schritte, einen Schuss. Hastig klopfte er zweimal,
dreimal, einmal.
Keine Reaktion. Was, wenn sie glauben, ich wäre Ronnie?
Was, wenn sie durch die Falltür schießen? Als er wieder klopf‐
te, hörte er, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. Die Fall‐
tür wurde geöffnet. Eine Stirnlampe leuchtete ihm direkt ins
Gesicht, überlastete den Sensor seiner Brille und rief ein grelles
Leuchten hervor, das ihn vorübergehend blendete. Die Stirn‐
lampe wurde zur Seite gedreht, so dass er wieder sehen konn‐
te. Er rannte die Stufen hinauf und schloss die Falltür hinter
sich.
Der Geruch nach verbranntem Pulver war überall. Vinnie
stand in der Tür zum Überwachungsraum und zielte auf zwei
unregelmäßige Löcher im Fußboden. Als er Balenger sah, trat
er zurück und kam auf ihn zu. »Ich habe getan, was du gesagt
hast. Ich habe bis fünfzig gezählt. Dann habe ich das Funkge‐
rät lauter gestellt und auf den Boden gelegt. Er hat’s in Stücke
geschossen.«
»Wie viele Schüsse hast du abgefeuert?« Balenger nahm die
Pistole.
»Drei. Ich hoffe, du glaubst jetzt nicht, das wäre Ver‐
schwendung –«
»Du hast deine Aufgabe erfüllt. Du hast ihn abgelenkt.
Noch neun Schuss. Die müssen wir gut nutzen.«
»Er schießt planlos durch die Fußböden.«
»Er kommt nicht in Danatas Wohnzimmer rein, von dort
kann er nicht auf uns schießen. Im Moment sind wir hier si‐
cher. Gib mir deinen Rucksack.« Balenger hob das Funkgerät
an den Mund. »Hallo, Arschloch, weißt du was?« Rauschen.
»Ich hab dich was gefragt, Wichser.«
»Was sollte ich denn wissen? Sind die Obszönitäten wirk‐
lich nötig?«
»Wenn’s um dich geht? Unbedingt. Ich hab meine Frau ge‐
funden, du Stück Scheiße.« Rauschen.
»Du hast sie erwürgt. Du hast
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