Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
nach wie vor entschlossen war, die Knochenpost als Auftrag zu betrachten.
Und beide Ermittlungen ohne Aussicht auf einen raschen Erfolg! Aber sie war nicht
Privatdetektivin geworden, um bei komplizierten Fällen zu kneifen. Die langweilige
Arbeit für die Versicherung würde sie eben zwischendurch und abends erledigen.
»Einverstanden!«,
sagte sie und machte Vorschläge für die ersten Schritte.
Elisa erwies
sich als sehr kooperativ und hatte zudem nichts gegen die Höhe des Honorars einzuwenden.
Wieder allein, setzte sich Norma an den Schreibtisch und startete den PC. Sie fühlte
sich angespannt – positiv erregt. Ihr wurde klar, wie sehr sie einen kniffligen
Auftrag vermisst hatte. Und jetzt hatte sie gleich zwei auf einmal bekommen. Sie
beschloss, vorerst den Schwerpunkt auf Angela Bennefelds Ableben zu legen. Was die
Knochen betraf, musste sie sowieso die Ergebnisse der KTU und der Gerichtsmedizin
abwarten.
Als ausgebildete
Kommissarin ging sie jeden Fall systematisch an. Die Nachmittagsstunden verbrachte
sie damit, ein Konzept auszuarbeiten. Sie fertigte eine Liste der Personen an, die
mit Angela Kontakt hatten: Karl und Elisa Bennefeld, Henriette Medzig und deren
Sohn Oliver, Veit Lucas Wernhardt. Laut seiner Facebookseite war der Schauspieler
ledig und wohnte in München. Die Fotos zeigten einen ernsthaft wirkenden Mann mit
ebenmäßigen Zügen und kräftigem Kinn. Ein Link führte zu einem Filmausschnitt, der
Wernhardt alias Kommissar Marco Koslowsky im ›Nächtlichen Zugriff‹ zeigte: Nach
einer rasanten Autojagd spurtete er über verlassene Hinterhöfe und treppauf, treppab
durch baufällige Industriehallen, bis er den Bösewicht im Nahkampf überwältigte.
Vorausgesetzt, man hatte kein Double eingesetzt – wonach es nicht aussah –, war
Wernhardt beeindruckend gut in Form.
Norma griff
nach dem Telefon und wählte Wolferts Nummer. Er war zurück und nahm persönlich ab.
Milano hatte ihm bereits von den Knochen berichtet. »Eine merkwürdige Sache, Norma.
Der Doppeldoktor nimmt sich der Sache an.«
»Der Doppeldoktor?«,
wunderte sie sich.
Ein neuer
Kollege im LKA, klärte Wolfert sie auf. »Timon Frywaldt. Er gilt als Koryphäe und
hat eigentlich anderes zu tun, als sich mit alten Knochen zu befassen. Du weißt
ja, die akuten Vorgänge haben Vorrang.«
Norma seufzte
laut. »Ich fürchte, ich muss bis Weihnachten warten. Wenn nicht bis Ostern. Was
ist mit dem Päckchen?«
Das sei
wohlbehalten in der KTU eingetroffen. Er werde ab und zu nachhaken, versprach er.
Norma bedankte
sich. »Da ist noch etwas. Angela Bennefeld. Ihr habt ihre Leiche doch auf Abwehrspuren
untersuchen lassen?«
»Norma!
Hältst du uns für Anfänger?«
»Ich frage
nur. Luigi war so schnell dabei mit seiner Erklärung, die Bennefeld sei volltrunken
gestrauchelt.«
»Trotzdem
haben wir die Leiche genauestens in Augenschein nehmen lassen. Nichts weist auf
Fremdverschulden hin. Der Alkoholspiegel der Dame reichte dicke aus, um zu torkeln.
Hast du einen Verdacht?«
»Keinen
Verdacht, einen Auftrag. Elisa Bennefeld war bei mir. Ihr und ihrem Mann genügt
die offizielle Erklärung nicht. Du hast dir Angelas Fälle bei Gericht angesehen?«
Wie Milano
berichtet hatte, war Wolfert dabei auf nichts Verdächtiges gestoßen. Ihn überzeugte
die Unfalltheorie. »Für Selbstmord spricht gar nichts. Anders als beim Vater. Ist
dir bekannt, wie Karl Bennefeld in den Rollstuhl kam? Er hat sich als junger Mann
vom Schiersteiner Kirchturm gestürzt. Präzise gesagt, vom Turm der Christophoruskirche.
Das ist diese hübsche, kleine Rokokokirche. Von dem Sturz hat er sich nie wieder
erholt.«
»Ein Suizidversuch?«
»Davon ist
auszugehen. Karl Bennefeld steckte bis über beiden Ohren in Schulden, und das Familienweingut
war verloren.«
»An wen?«
»Onno Halvard.«
»Unser ›Löwe
von Wiesbaden‹? Du bist hervorragend im Bilde, Dirk.«
Er schwieg
einen Moment. »Es war einer meiner ersten Einsätze. Mit einem Kollegen musste ich
damals rauf auf den Turm, um nachzusehen, ob es möglicherweise ein Unfall war. Auch
Bennefeld war diese steilen Leitern hinaufgeklettert. Oben hat er eine der Luken
geöffnet, durch die man auf das Dach hinausgelangt. Er hatte getrunken, war aber
keinesfalls betrunken genug, um sich nicht bewusst zu sein, was er vorhatte.«
14
Juli 1963
Was für ein bildschönes Kind! Mit
den rotblonden Locken sah es wie ein Engelchen aus. Bei diesem Anblick schlug ihr
das Herz bis zum Hals. Das Kind trug kurze
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