Ein Braeutigam und zwei Braeute
Rebbe.
»Heiliger Mann!«
»Ich bin kein Heiliger, ich bin ein einfacher Jude.«
»Sind Sie nicht Rebbe?« Die Frau hörte für einen Moment auf zu weinen.
»Ich bin kein Rebbe mehr.«
Die Frau wollte dem Rebbe ein bescheidenes Geldstück geben, doch er weigerte sich, es anzunehmen, und sagte zu ihr: »Behalten Sie das Geld, gehen Sie zum Arzt und kaufen Sie Medizin.«
Genau in diesem Augenblick flüsterte mir der Jüngste ins Ohr: »In Amerika schneide ich mir die Schläfenlocken ab.«
»Wird dein Vater das zulassen?«
»Er hat es selber gesagt. Er schickt mich dort auch in eine öffentliche Schule.«
»In eine öffentliche Schule?«
»Ja … in eine öffentliche.«
Der Rebbe wanderte nicht nur nach Amerika aus, er streikte gegen Gott. Aus seinem Gesicht sprachen Widerspenstigkeit und Ungeduld. In den Augen der Rebbezin funkelte Haß. Und seltsamerweise reiste der Rebbe ab, ohne sich von Vater zu verabschieden.
Bald meldete man uns vom Rebbe traurige Dinge. Jemand berichtete, er habe die Familie in Wien auf dem Bahnhof gesehen. Die Rebbezin trug einen Hut. Die Schläfenlocken der Jungen waren abgeschnitten. Der Rebbe trug westliche Kleidung und einen weichen Hut nach deutscher Mode.
Eine Weile hörten wir nichts mehr, und dann bekam jemand in Warschau einen Brief von einem Brüsseler Verwandten, in dem dieser mitteilte, er habe die Familie getroffen. Eine der Töchter des Rebbe hatte sich wegen ihrer Augen dort in Behandlung begeben müssen. Der Rebbe hatte in einem Restaurant gespeist, das nicht gut koscher war und in das kein wahrhaft frommer Jude jemals seinen Fuß setzen würde.
Wieder verging einige Zeit ohne Nachricht vom Rebbe. Dann erhielt ein Mann in unserer Straße einen Brief von seinem Bruder in New York, der ihm schrieb, der Rebbe arbeite mit ihm im selben Betrieb. Er hatte sich den Bart abrasiert. Er arbeitete den ganzen Tag Seite an Seite mit Schicksen.
Jede neue Nachricht war für Vater ein Schlag, aber er ereiferte sich nicht. Zwar durfte man den Allmächtigen nicht bekriegen, und dieser Rebbe führte sich nicht auf, wie es sich gebührte. Trotzdem mußte man Gott bisweilen ein scharfes Wort sagen. Er sollte nicht meinen, Er könne mit den Juden machen, was Er wolle, und sie würden gewohnheitsmäßig ihren Hals zum Abschlachten hinhalten. Wenn Er Juden wollte, sollte Er ihnen ein Auskommen bieten. Wenn Er Tora und Jüdischkeit wollte, sollte Er dafür sorgen, daß sie geachtet wurden.
Diese Dinge sprach Vater nicht aus, aber in seinen Augen konnte man tatsächlich so etwas wie mit Kummer gemischten Triumph lesen. Mir schien, daß Vaters Gedankengänge etwa so ver liefen: Wenn ein so feiner junger Mann aus einer so ruhmreichen Familie den geraden schmalen Pfad verließ, werde man im Himmel merken, daß die Lage der Juden kritisch war und der Messias kommen mußte.
Auch mir gefielen diese Nachrichten. Sie zeigten, daß alles in Stücke ging. Wer weiß, vielleicht würde auch ich mir die Schläfenlocken abschneiden dürfen. Vielleicht würde Vater auch nach Amerika gehen. Ich hatte den starken Wunsch fortzugehen – jedesmal, wenn ich einen Zug pfeifen hörte, wurde diese Sehnsucht wieder wach. In meiner Phantasie sah ich den Rebbe in einer Fabrik, barhaupt, glattrasiert, eine Schickse zu jeder Seite. Der Rebbe nähte Knöpfe an und sang dabei ein Lied wie die, die die Schneidergesellen in ihren Werkstätten sangen. Das Haar der Rebbezin war unbedeckt. Ihre Söhne, meine Freunde, besuchten eine öffentliche Schule und schrieben am Sabbat. Wer weiß, vielleicht aßen sie auch unkoschere Speisen. Ich stellte mir vor, wenn der Rebbe von der Arbeit nach Hause kam, erzählte die Rebbezin ihm: Heute habe ich Nudeln mit Schinken gekocht …
Es mußte wohl ein Jahr vergangen sein oder mehr. Da bekamen wir aus heiterem Himmel einen Brief vom Rebbe, in dem er schrieb, daß er wirklich den Ehrgeiz gehabt habe, Arbeiter zu sein. Lange Zeit habe er in der Fabrik geschuftet, sei aber nicht kräftig genug dafür. Dann habe jemand vorgeschlagen, er solle Schächten lernen. Der Rebbe bat Vater, er möchte ihm das Handbuch für Schächter, Tewuot Schor, schicken.
Der Brief machte Vater Freude, und er zeigte ihn den Männern im Bethaus. »Seht ihr, er ist eben doch ein Nachfahre der Frommen«, sagte er.
Ich aber nahm diese Art von Unterwürfigkeit ungnädig auf. Ich wollte, daß der Rebbe konvertierte. Ich wollte, daß
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