Ein Ex, ein Kuss - und neues Glück?
Augenblick lang hätte er schwören können, dass sie die Wahrheit längst ahnte.
Skeptisch betrachtete er sein Spiegelbild. Zwischen ihm und Michael gab es gewisse äußerliche Ähnlichkeiten, und niemand hätte daran gezweifelt, dass sie Brüder waren. Aber es gab eben auch Unterschiede …
Er zog sich einen alten grauen Bademantel über und ging zu der Nische, in der noch sein Schülerschreibtisch stand. Der Tisch, an dem er damals seine Zukunft geplant hatte. Sein Computer stand schon lange nicht mehr da, dafür hing die Pinnwand immer noch an der Wand. Daran heftete ein Foto.
Josh löste es ab und betrachtete es. Das Bild zeigte ihn und Michael vor einigen Jahren dabei, wie sie den Gartengrill anzündeten. Phoebe hatte die Aufnahme gemacht, damals dürfte sein Bruder etwa so alt gewesen sein wie Josh jetzt. Ja, wir sehen uns wirklich sehr ähnlich, dachte er. Aber Michael kommt mehr nach unserer Mutter, er hat ihre braunen Augen geerbt.
Er warf das Foto auf den Schreibtisch und zog ein paar seiner alten Kleidungsstücke aus dem Schrank: eine Jeans, in die er noch hineinpasste, und ein Sweatshirt, auf dem immerhin kein peinlicher Bandname stand.
Dann las er die Nachrichten auf seinem neuen Smartphone, beantwortete die dringendsten davon und ging wieder nach oben – zu Grace. Und zu Posie, die für ihn ein Wunder und gleichzeitig eine kleine Katastrophe bedeutete.
Oben blieb er vor Michaels Arbeitszimmer stehen. Die Tür stand offen. Wie immer war alles perfekt aufgeräumt, und der Schreibtisch war leer – abgesehen von Michaels Adressbuch und einem antiken silbernen Bilderrahmen.
Josh ging in den Raum und nahm das Bild in die Hand. Phoebe war darauf zu sehen, ihr neugeborenes Baby im Arm. Die Aufnahme erweckte den Anschein, als wäre alles in bester Ordnung. Aber das stimmte nicht. Überhaupt nichts war in Ordnung. Der schöne Schein basierte auf einer Lüge.
Selbst sein ach so perfekter Bruder, von dem alle immer nur das Beste gedacht hatten, hatte eine große, wenn auch sehr menschliche Schwäche.
Vorsichtig stellte Josh das Foto zurück auf den Schreibtisch. Dann verließ er das Zimmer und schloss leise die Tür.
Michaels Papierkram sehe ich mir später an, sagte er sich.
Wahrscheinlich war ohnehin nicht viel zu tun. Josh war sich sicher, dass sein Bruder alle Rechnungen längst bezahlt hatte, dass der Schriftverkehr mit der Lebensversicherungsgesellschaft auf dem neuesten Stand war und ein rechtsgültiges Testament für den Fall der Fälle beim Familienanwalt lag. Alles, wie es sich gehörte.
Josh runzelte die Stirn. Hatte Michael sein Testament seit Posies Geburt vielleicht geändert? Das war zwar noch nicht lange her, aber Michael war ein gewissenhafter Mensch gewesen und hatte gern alles sofort erledigt. Er hatte die Vorstellung gehasst, dass andere Leute sich seinetwegen durch ein Chaos kämpfen müssten. Andererseits hatte er den Menschen, die ihm am nächsten standen, wichtige Dinge verschwiegen – und in den allermeisten Fällen mündete so etwas früher oder später auch im Chaos.
Wie auch immer Michael seinen Nachlass geregelt hatte – Graces Anteil wäre davon wohl am stärksten betroffen.
Ob sie überhaupt ahnte, wie sehr sich ihr Leben jetzt möglicherweise ändern würde? Dass sie nicht nur ihre engsten Familienangehörigen verloren hatte, sondern möglicherweise auch gezwungen sein würde, ihr geliebtes Zuhause zu verlassen? Dass sie das Baby aufgeben müsste, das sie so selbstlos ihrer Schwester überlassen hatte – allerdings in der Annahme, dem Mädchen immer nah sein zu können? Immer für sie da zu sein, um sie zu trösten, sie im Arm zu halten …
Er verdrängte die düsteren Gedanken. Dann ging er in die Küche. „Entschuldige bitte“, sagte er. „Ich musste noch kurz …“
Er hielt inne. Die Küche war leer. Dabei hätte er schwören können, dass er eben noch Graces Stimme gehört hatte. Egal. Er zog eine Schublade auf und holte Besteck heraus, um schon mal den Tisch zu decken.
Da war es wieder!
„Gute Nacht, Rosie Posie“, sagte Grace und lachte leise. „Du bist Daddys kleine Prinzessin, weißt du das?“
Er fuhr herum. Dann erblickte er das Babyfon auf der Kommode und erschrak. Konnte Grace ihn jetzt etwa auch hören?
Wahrscheinlich nicht, dachte er. Trotzdem ging er ein paar Schritte zurück und überlegte, ob er sich nicht erst mal zurückziehen sollte. Nicht, dass sie auf einmal in die Küche kam und feststellte, dass er sie von hier aus
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