Ein Freund aus alten Tagen
Ähnlichkeit mit dem Verstorbenen. Sie hätte ebenso gut in die Redaktion zurückkehren können, aber es goss in Strömen, und sie musste ihre Gedanken sammeln.
Immerhin hatte sie jetzt getan, wozu ihre Therapeutin sie schon länger gedrängt hatte, und versucht, mit einem dieser Versager in der Redaktion zusammenzuarbeiten. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie sich für Meijtens entschieden und tatsächlich geglaubt, dass an der Geschichte etwas dran sein könnte. Ihre journalistische Spürnase ließ sie in letzter Zeit offenbar im Stich. Vielleicht hatte sie sich von der Sympathie beeinflussen lassen, die sie nach der Story über den Baudezernenten für ihn empfunden hatte. Sie hätten einen unerfahrenen Typen wie ihn niemals alleine an einer so großen Sache arbeiten lassen dürfen. Als er jedoch versuchte, sie mit seinem Gerede über das Verhalten der Polizei zu manipulieren, hatte er sich von einer ganz anderen Seite gezeigt. Dieser freche kleine Spinner, dachte sie und lächelte widerwillig vor sich hin.
Plötzlich merkte sie, dass sich eine der Archivarinnen näherte. Sie hatte graue Haare, wache Augen und trug eine Weste, die selbst gestrickt aussah.
»Verzeihen Sie bitte, wenn ich störe, aber sind Sie nicht diese Natalie Petrini?«
Ihre Stimme war so fad wie lauwarmer Haferbrei.
»Genau die bin ich.«
Die Archivarin begann, sachte den Kopf zu wiegen, und ihre großen Holzohrringe pendelten ein wenig hin und her.
»Ihre Sendung hat uns immer so gut gefallen, meinem Mann und mir.«
Großer Gott.
»Es freut mich wirklich, dass Sie wieder arbeiten«, fuhr die Frau fort und legte den Kopf schief.
Ist es mit mir schon so weit gekommen?, dachte Natalie. Bin ich schon zu einem Objekt vertrauensseligen Mitleids von Fremden mit Holzohrringen verkommen?
»Könnten Sie mir vielleicht ein Autogramm geben? Ich dachte, Sie könnten hier unterschreiben.«
Sie legte eine alte Illustrierte auf den Tisch und schlug einen Artikel auf, den Natalie noch gar nicht kannte. Eingeschoben zwischen Reportagen über Prominente und Neuigkeiten aus dem Königshaus befand sich ein ganzseitiger Text mit der reißerischen Schlagzeile: »Natalie Petrini nach dem Zusammenbruch: Jetzt setze ich ganz auf die Liebe!«
Natalie schloss die Augen und umklammerte die Armlehne. Am liebsten hätte sie sich übergeben.
Die Archivarin beugte sich zu ihr herab und flüsterte beflissen: »Ich habe mir gedacht, Sie könnten schreiben: ›Meiner Freundin Marie-Louise als Dankeschön für die gute Zusammenarbeit‹.«
Natalie atmete tief durch. »Sie wollen tatsächlich, dass ich mein Autogramm in dieses verdammte Käseblatt schreibe? Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?«
Die Frau zuckte zusammen und schaute sich nervös um. »Ich kann Ihnen natürlich auch ein Blatt Papier holen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Vergessen Sie’s. Sie sind nicht meine ›Freundin Marie-Louise‹, und wir arbeiten auch nicht zusammen.«
Sie fuhr fort, ihre Notizen durchzugehen und sah aus den Augenwinkeln, wie die Archivarin schluchzend hinter ihrer Theke saß und von einer Kollegin getröstet wurde.
Das musste jetzt reichen, sie hatte Besseres zu tun. Sie ging zum Münzfernsprecher, um Meijtens anzurufen, aber es war besetzt.
»Mist«, murrte sie.
Meijtens warf den Schreibblock von sich. Er hatte mehrere Seiten mit Notizen gefüllt, die für seine Suche nach Aron Bektashi jedoch völlig unbrauchbar waren. Es war nicht weiter schwer gewesen, ein Dutzend früherer Mitglieder linker Organisationen zu finden, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt für Albanien begeistert hatten. Aber das hatte ihn nicht weitergebracht.
Er massierte sein schmerzendes Ohrläppchen. Bestimmt hatte er inzwischen die komplette Buchstabensuppe aus Sekten, Freundschaftsbünden und obskuren Splitterparteien durchforstet. Er hätte gern gewusst, was sie darüber dachten, dass jubelnde Menschen die Berliner Mauer niedergerissen und ihre sozialistischen Führer abgesetzt hatten, aber er hatte genug Taktgefühl besessen, sie nicht zu fragen. Es waren nicht die besten Jahre für solche Menschen.
Viele hatten wie erwartet misstrauisch reagiert, als Meijtens sie nach ihren Kontakten zu Albanien fragte, einige hatten sogar aufgelegt. Aber nicht aus Trauer über den Zusammenbruch des Weltkommunismus oder aus Misstrauen gegenüber einem Journalisten des großen Medienkonzerns, sondern wegen der alten Fraktionskämpfe innerhalb der Linken. Die Stalinisten verdächtigten ihn, ein Maoist zu
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