Ein guter Jahrgang-iO
nicht besonders groß zu sein. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, eine zweite Meinung einzuholen. Ich werde mit Roussel reden.«
»Kann nicht schaden. Irgendetwas stimmt mit dem Kerl nicht. Ich habe noch nie einen Weinexperten mit manikürten Händen gesehen.«
VIERZEHN
Mr. Chen, der in seinem Büro hoch über dem Hafen saß, zündete sich eine Zigarette an und griff nach dem Telefon. Er war wieder einmal im Begriff, seinen Ruf als exklusivster Weinhändler Hongkongs zu untermauern. Er war der Mann, den man kontaktieren musste, wenn man seltene Jahrgänge oder Spezialabfüllungen suchte und das entsprechende Kleingeld besaß, um sich das eine oder andere leisten zu können. Bei der Erwähnung seines Namens stellte ihn die Sekretärin unverzüglich durch.
Chen verschwendete keine Zeit mit langen Vorreden. »Sie haben heute einen Glückstag«, eröffnete er seinem Kunden. »Ich war erfolgreich in Bordeaux. Es ist mir gelungen, sechs Kisten zu ergattern, und ich kann Ihnen versichern, dass es die einzigen in ganz Hongkong sein werden. In Anbetracht unserer langjährigen Geschäftsbeziehung, von unserer engen Freundschaft ganz abgesehen, habe ich zwei Kisten für Sie reserviert, zum Preis von 75 000 Dollar pro Kiste. US-Dollar, versteht sich.«
Er hielt inne, damit dieser neuerliche Beweis seiner Großzügigkeit seine Wirkung entfalten konnte. Nach einer Weile fuhr er fort: »Was? Wie er schmeckt? Was hat denn das damit zu tun? Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, mein Freund! Sie wissen so gut wie ich, dass Wein nicht zum Trinken da ist, sondern zum Kaufen und Verkaufen. Eine Investition. Meine anderen Kunden würden ihre eigene Mutter für diesen Wein verkaufen. Halten Sie ihn ein, zwei Jahre in Ihrem Depot. Nach der gegenwärtigen Marktlage zu urteilen, können Sie Ihr Geld bis dahin verdoppeln. Nein, bedaure, das ist nicht möglich. Nur die zwei Kisten. Die anderen sind bereits Peking und Seoul zugesagt. Ja? Gut. Sie werden es nicht bereuen.«
Chen legte den Hörer auf, blies zur Feier des Tages einen Rauchkringel in die Luft und hakte einen Namen auf der kurzen Liste ab, die auf seinem Schreibtisch lag. Die nächsten Tage versprachen spannend zu werden. Jetzt wählte er erst einmal eine Nummer in Peking.
* * *
Claude Roussel war wie üblich zum Mittagessen in seinen pinkfarbenen Palast heimgekehrt. Gedankenverloren stocherte er in dem Schinkenspeck und den Linsen seines bevorzugten petit salé herum, gab sich wortkarg und rührte seinen Wein kaum an. Ludivine, die es gewohnt war, einen blitzblanken Teller und ein leeres Glas bei den Mahlzeiten vor sich zu sehen, gelangte zu einer nahe liegenden Schlussfolgerung.
»Dein Magen macht dir wieder zu schaffen, stimmt's?«, sagte sie mit der Überzeugung einer Ehefrau, die seit langem mit den Eskapaden des Verdauungssystems ihres Mannes vertraut ist. »Du hast gestern Abend zu viel Käse gegessen. Du brauchst ein Abführmittel.«
Roussel schüttelte den Kopf und schob seinen Teller beiseite. »Mein Magen? Nein, dem geht es bestens.«
»Was bedrückt dich dann?« Sie streckte den Arm über den Tisch und tätschelte seine Hand. »Na komm, Clo-Clo, raus damit.«
Seufzend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Die Rebstöcke. Du weißt schon, die kleine Parzelle.« Ludivine nickte. »Gestern war der Önologe aus Bordeaux da, um sich das Anwesen anzuschauen, un monsieur très snob, den Nathalie Auzet vermittelt hat.«
»Was hat er gesagt?«
»Oh, nicht viel. Und nichts Gutes. Ich glaube, das war das Problem, denn heute Morgen hat mir Monsieur Max eröffnet, dass er einen zweiten Experten hinzuziehen will, um eine weitere Meinung zu hören. Ist dir klar, was das bedeutet?« Roussel zeichnete mit seinem Weinglas Kreise auf den Tisch; sein Gesicht war ein Bild des Jammers.
Ludivine war völlig klar, was das bedeutete, denn sie hatte es seit Jahren mehr oder weniger kommen sehen. Sie ging um den Tisch herum und stellte sich hinter Claude und massierte ihm die Schultern. »Chéri, früher oder später musste ja Schluss sein. Wir haben diesen Weinstöcken einige gute Jahre zu verdanken - das Haus, die Autos, mehr jedenfalls, als wir zwei uns bei unserer Hochzeit vorstellen konnten.« Sie beugte sich hinunter, um ihn auf den Scheitel zu küssen. »Ich ertrage es nicht, dich in einem solchen Zustand zu sehen.« Nachdem sie seine Schultern ein letztes Mal gedrückt hatte, räumte sie die Teller ab, um sie zum Spülbecken zu tragen. Plötzlich hielt sie
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