Ein Land, das Himmel heißt
Nils und hob ein Paket heraus. Es war ziemlich schwer. Wie eine Opfergabe trug sie es zu dem kleinen Tisch, Irma räumte ihn flugs frei, und sie setzte es ab. Alle drängten sich heran, Alastair zog die Lampe heran, Nils leuchtete zusätzlich mit der Taschenlampe. Vor ihnen lag ein Bündel, fest in Wachstuch eingenäht. Jill berührte es andächtig. »Es ist mit Wachs versiegelt, jede Kante, seht einmal.« Das Siegel war ein großer Wachsklecks, in den offenbar Johann Steinach unbeholfen seine Anfangsbuchstaben eingeritzt hatte. Als sie es mit großer Vorsicht brach und die Kantenversiegelung aufritzte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Sie hatte das Gefühl, in etwas einzudringen, was verborgen bleiben sollte. Ein zweites Päckchen, auf die gleiche Weise eingesiegelt, lag vor ihr. Sie öffnete es behutsam.
Befreit von dem steifen Tuch, dehnte sich der seidige Stoff, der darunter zum Vorschein kam, als wäre er lebendig. Vergilbte Klöppelspitzen, steif und krümelig, bauschten sich vor ihr. Ein Zettel rutschte heraus und fiel auf den Boden, und Irma erwischte ihn als Erste. Sie setzte ihre Brille auf, entfaltete den Zettel mit behutsamen Fingern und überflog ihn. »Nun lies schon vor.« Jill konnte ihre Ungeduld kaum zügeln.
»… Diese Hefte enthalten mein Leben. Ich habe sie in mein Hochzeitskleid genäht, es ist alles, was ich vom Schiff gerettet habe. Vor sechs Tagen drang ein Stachel des Kaffirbaums, der am Fuße meines Küchengartens steht, tief in meinen Handballen ein. Johann versuchte, ihn mit seinem Jagdmesser zu entfernen, doch die Wunde begann zu schwären. Jetzt fault sie und eitert, vergiftet mein Blut. Bald wird mein ganzer Körper verfaulen. Ich werde es nicht überleben, ich weiß es. Ich werde Johann und meine Kinder allein lassen müssen. Und ihn auch … Catherine le Roux-Steinach, 20. Dezember 1854.« Irma ließ den Zettel sinken. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Wen meint sie mit ›ihn‹?«, fragte Nils.
»Vielleicht hatte sie Fieber. Sie wusste bestimmt nicht mehr, was sie schrieb, seht euch doch die krakelige Schrift an«, sagte Tita und beugte sich vor, »geweint hat sie auch, die letzten Worte sind verschmiert.«
»Konstantin! Denkt an den Brief, den Leon hat«, rief Jill, »und sie schreibt ›meine Kinder‹, nicht unsere. Sie hatte drei. Eins davon muss Konstantins gewesen sein.« Sie kaute an einem Fingernagel, las den Zettel noch einmal. »Sie hatte ihr Hochzeitskleid schon von Deutschland mitgebracht … Sie kannte Johann doch noch gar nicht. Oder war sie so versessen darauf zu heiraten, irgendjemanden, dass sie das Kleid vorsorglich hat machen lassen?«
»Faszinierend«, murmelte Nils.
Mit angehaltenem Atem öffnete Jill dann behutsam das Bündel, bis sie mit Hilfe von Tita und Angelica das Kleid herausheben konnte. Die Seide entfaltete sich mit leisem Rascheln. Süßlich staubiger Duft wie von getrockneten Rosen stieg aus den Spitzen auf, am Ausschnitt nahm sie ihn besonders intensiv wahr. »Catherines Parfüm«, flüsterte sie. Zu dritt trugen sie das Kleid und legten es der Länge nach auf den Esstisch nebenan, dann wandte Jill sich wieder dem Paket zu. Es enthielt ein weiteres, mehrfach in Wachstuch eingeschlagenes Paket, das ebenfalls entlang der Kanten mit Wachs versiegelt war. Die Buchstaben auf dem Siegel waren die von Catherine. CS .
Erstaunlicherweise waren die Tagebücher, die aus mehreren dünnen Schulheften und losen Blättern verschiedenster Art bestanden, geschützt durch das Tuch, so gut wie unbeschädigt geblieben, unberührt von Schimmelbefall und Kakerlakenfraß. Nur Stockflecken waren wie Sommersprossen über das vom Alter gelb gewordene Papier verstreut. Doch die waren sicherlich noch zu Zeiten Catherines in diesem feuchtheißen Klima entstanden. Mit zitternden Fingern schlug Jill den Deckel des ersten Heftes auf und betrat ein versunkenes Zeitalter.
»Und?«, fragte Irma nach Minuten knisternder Ungeduld. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie es nicht erwarten konnte, die Hefte in die Hände zu bekommen.
Widerwillig riss sich Jill von dem Text los, der wie der Brief an Konstantin im Karomuster kreuzweise geschrieben worden war. »Das wird ziemlich lange dauern, bis wir es entziffert haben …« Sie stöberte durch die losen Blätter, Packpapier war darunter, Zeitungsränder, alte Briefe, deren ursprünglicher Text durchgestrichen war und die Abstände zwischen den Zeilen und die Ränder neu beschrieben waren, sogar getrocknete Rinde.
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