Ein Lord mit besten Absichten
den Menschen aus, die sich in ihrer Nähe befinden. Verstehst du das?«
Tief in seinem Innern spürte Nick das Brodeln eines starken Dranges. Er versuchte, ihn zu ignorieren, doch er wallte immer stärker auf, höher und heftiger, bis er dem Drang fast nachgegeben hätte. Doch dann nickte er nur.
»Gut.« Sie umarmte ihn und spendete ihm ihre Wärme, ihren Trost. »Ich liebe dich, mein Sohn«, flüsterte sie ihm ins Ohr, ehe sie nach einem letzten Kuss die Treppe hinauflief.
Der Drang quoll immer höher, bis Nick schließlich glaubte, dass er gleich aus seinem Mund hervorschießen würde. Er sah noch kurz, wie der Saum ihres Kleides aufflatterte, als sie auf der Treppe um die Ecke bog, und dann gab er dem Drang nach. »Ich lasse nicht zu, dass Papa dich mir wegnimmt«, flüsterte er.
11
Nick kauerte auf dem oberen Treppenabsatz im Schatten der Wand. Er entfernte kleine Schorfstücke von einer Wunde am Knie, die er sich auf Nethercote bei dem Versuch zugezogen hatte, mit seinem Pony die Stufen zur Veranda hinaufzureiten. Der Ärger mit den Erwachsenen rührte daher – zu diesem Ergebnis war er gekommen –, dass sie nicht mit der Sprache rausrückten und nicht darüber redeten, wenn etwas falschlief und wie man es ändern könnte. Er wusste, dass sein Vater und Gillian Streit hatten, was er unschwer an ihren erhobenen Stimmen erkannte, die bis in den ersten Stock zu hören waren. Außerdem hatte er mit eigenen Augen gesehen, dass Gillian wieder weinte. Doch sie hatte ihm nicht erzählt, was sie bedrückte; nur, dass sein Vater verletzt und aufgebracht war.
Noch ehe er sich weiter Gedanken über dieses Thema machen konnte, sah er, wie sein Vater aus der Bibliothek stürmte, Hut und Gehstock an sich riss und mit einem Knurren zu seiner bereitstehenden Kutsche stapfte. Die Diener hatten sich in der Halle versammelt. Er fragte sich, ob sie wussten, welches Problem Gillian und sein Vater hatten und was man dagegen tun konnte. Er wollte sie gerade fragen, als sein Hauslehrer Rogerson sich von den anderen löste und, als er Nick erspähte, herkam und ihn ins Studierzimmer nach oben zurücktrieb.
Rogerson legte einen Arm um seine Schultern. »Es wird alles gut, Junge.« Nick dachte an Gillian, daran, wie wohl er sich bei ihr fühlte, und hoffte inständig, dass sein Lehrer recht behielt.
»Lord Weston! Es überrascht mich, Sie so schnell wiederzusehen.«
»Mir ist nach einer kleinen Trainingseinheit, Jackson. Hätten Sie da jemanden für mich?«
Gentleman Jackson grinste. »Ich habe einen arroganten Nachwuchsboxer da drinnen, der jemanden sucht, der ihm ein oder zwei Dämpfer verpasst. Soll ich ihm sagen, dass Sie ihm den Gefallen tun würden?«
Noble ließ sich aus dem Mantel helfen und langte nach den Knöpfen seiner Weste. »Unbedingt. Ich würde ihm gerne die Arroganz aus dem Leib prügeln«, antwortete er grimmig.
»Das ist doch merkwürdig!«
Crouch hatte sich, wie Gillian bemerkte, vor der nicht ganz geschlossenen Tür ihres Wohnzimmers aufgehalten. Sie lächelte kurz in sich hinein. Sein Interesse und seine Besorgnis waren wirklich rührend, wenn auch leicht übertrieben. Sie wusste, dass er vor Neugier fast umkam wegen des Briefes, den er ihr vor Kurzem überbracht hatte.
»Ham Se was gesacht, M’lady?«, fragte er, während er ins Zimmer platzte.
»Ach, Crouch, das trifft sich ja gut, dass Sie gerade da sind, wo ich laut über etwas nachdenke. Zu ihrer Frage, ja, ich habe etwas gesagt. Der Brief, den Sie mir gebracht haben – er ist ziemlich merkwürdig.«
Crouch nahm eine Pose ein, die auf echtes Interesse schließen ließ. »Merkwürdich, M’lady. Er wurde an Se nach Nethercote geschickt, aber weil Se hier sind, hat’n der Sekretär persönlich abgeb’n lass’n.«
»Ja, ich verstehe, warum er mir hinterhergeschickt wurde, aber worüber ich mich wundere, ist sein Inhalt. Da steht nämlich, wenn ich nach London fahren sollte und eine bestimmte Adresse in Kensington aufsuche, würde ich etwas sehr Interessantes im Zusammenhang mit meinem Mann erfahren.«
Crouch runzelte die Stirn. »Jemand wollt, dass Se von Nethercote in die Stadt reit’n? Warum sollt das jemand wolln?«
Gillian tippte sich mit der Kante des Briefs an die Lippen, während sie überlegte. »Diese Nachricht muss mir geschickt worden sein, damit ich Noble ans Bett seiner Mätresse gefesselt finde.«
Crouch zog die Brauen zusammen. »Wenn da nich mal jemand weich in’er Birne is’.«
»Ähm … ja, schon möglich, wobei
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