Ein Mann von Ehre
das Leben nahm. Sie war nicht fähig gewesen, den Skandal zu ertragen, dem ihre Familie sich ausgesetzt sehen würde.
Bernard Harrington hatte auch Damians Vater beim Kartenspiel ausgenommen. Der finanzielle Ruin hatte das Ableben des Vaters beschleunigt. Bernard Harrington war schuld, dass Damians Großvater einsam gestorben war, ohne den ältesten Enkel wiedergesehen zu haben. Damian war entschlossen, Bernard Harrington zur Rechenschaft zu ziehen, und wenn er ihn, falls es keinen anderen Weg gab, zum Duell fordern musste.
Entspannt unternahm Rosalyn ihren üblichen Morgenritt. Sie hatte von Damian geträumt, und die Erinnerung daran machte sie glücklich. Nach dem Ausritt begab sie sich in das Frühstückszimmer und sah die Cousine mit Mrs. Jenkins am Tisch sitzen.
„Ist mein Bruder noch nicht aufgestanden?“, erkundigte sie sich. „Ich habe Anweisung gegeben, Mrs. Jenkins, seiner Verlobten das Frühstück in ihrem Zimmer zu servieren. Sie hätten sich nicht herbemühen müssen, Madam. Auch Sie hätten in Ihrem Zimmer frühstücken können.“
„Ich pflege zeitig aufzustehen“, erwiderte Mrs. Jenkins spitz und warf Rosalyn einen seltsamen Blick zu. „Bedauerlicherweise leide ich an Schlaflosigkeit. Gestern Nacht habe ich mir aus dem Salon ein Buch geholt, das mir jedoch nicht gefallen hat.
Lord Byron lässt es sehr an der richtigen moralischen Einstellung missen, sowohl in seinen Werken als auch in seinem Verhalten. Skandalös!“
Rosalyn begriff nicht, warum Mrs. Jenkins sie derart entrüstet anstarrte.
„In der Bibliothek sind bestimmt Bücher, die Ihr Interesse finden würden“, sagte sie leichthin und schaute dann die Cousine an, die auf sie einen reichlich verstörten Eindruck machte. Was mochte die abscheuliche Mrs. Jenkins zu ihr geäußert haben? „Sei so nett, Maria, und besorge, wenn du mit dem Frühstück fertig bist, vom Gärtner frische Schnittblumen.“
„Ich bin fertig.“ Hastig stand Maria auf und verließ den Raum.
„Sie ist immer so gefällig“, bemerkte Rosalyn. „Seit dem Tod meines Vaters war sie mir eine große Hilfe.“
„Natürlich hätten Sie hier nicht allein leben können“, sagte Mrs. Jenkins steif. „Ich frage mich jedoch, ob es klug war, hier nur mit Ihrer Cousine zu wohnen. Sie hätten Ihren guten Ruf besser geschützt, wäre eine verheiratete Frau bei Ihnen gewesen.“
„Ich befürchte, ich kann Ihnen nicht folgen, Madam.“Verständnislos sah Rosalyn sie an. „Was meinen Sie damit, dass ich meinen guten Ruf mehr hätte schützen sollen?“
„Ihnen mag es gleich sein, was die Leute von Ihnen denken, Miss Eastleigh“, antwortete Mrs. Jenkins kühl. „Ich hingegen habe den guten Ruf meiner Nichte zu berücksichtigen. Und ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun, damit er nicht beschädigt wird.“
Rosalyn war verblüfft und überlegte, worauf Mrs. Jenkins anspielen mochte. Unvermittelt kam ihr ein schrecklicher Gedanken. Das von Mrs. Jenkins bewohnte Gästezimmer lag zum Park, und vom Fenster aus konnte man die Stelle sehen, wo sie sich mit Lord Marlowe unterhalten hatte. Vielleicht hatte Mrs. Jenkins sie beobachtet.
Unwillkürlich errötete sie. Auf einen zufälligen Beobachter hatte das Geschehen so wirken müssen, als sei sie, nur in Nachthemd und Morgenmantel, absichtlich in den Park gegangen, um sich dort mit ihrem Liebhaber zu treffen.
„Sie haben keinen Anlass, Madam, sich um den guten Ruf Ihrer Nichte oder meinen Sorgen zu machen“, erwiderte sie so würdevoll wie möglich. Aus dem Bedürfnis, den Raum zu verlassen, ehe sie etwas Peinliches äußerte, stand sie auf. „Bitte, entschuldigen Sie mich, Madam. Ich habe heute Abend Gäste und muss jetzt dringend mit meiner Haushälterin sprechen.“
Hoch erhobenen Kopfes und in straffer Haltung verließ sie das Frühstückszimmer. Eine Frau wie Mrs. Jenkins würde natürlich das Schlimmste annehmen, falls sie nachts tatsächlich etwas im Park beobachtet hatte.
Es störte sie empfindlich, dass diese Person ihr Moral gepredigt hatte, noch dazu unter ihrem eigenen Dach. Ihr war jedoch klar, dass sie das selbst verschuldet hatte. Da sie jahrelang allein gelebt hatte, war sie es gewohnt, sich so zu benehmen, wie sie es für richtig hielt.
In der vergangenen Nacht hatte sie daher nicht an ihren guten Ruf gedacht. Jetzt begriff sie jedoch, dass sie, was Damian betraf, sehr diskret vorgehen musste. Sie durfte nicht der Anlass zu einem Skandal sein, unter dessen Auswirkungen der Bruder und
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