Ein Mann von Ehre
als sei nichts geschehen. Später kann ich dann seinen Tod durch eine kleine Anzeige in der ‚Times‘ bekannt geben.“
„Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mrs. Jenkins.“
„Ich habe Ihnen allen schon genug Ärger gemacht, genau wie mein Bruder“, erwiderte Mrs. Jenkins würdevoll. „Das Mindeste, was ich jetzt noch tun kann, ist, die Hochzeit wie geplant stattfinden zu lassen. Ich muss mich dafür entschuldigen, falls Bernard sich Ihnen ungebührlich genähert haben sollte. Ich habe ihm vorgeschlagen, er könne seine finanziellen Schwierigkeiten dadurch lösen, dass er Sie heiratet. Das war falsch von mir. Bitte, verzeihen Sie mir. Damals war ich nicht ganz bei Verstand.“
„Schon gut, Mrs. Jenkins“, sagte Rosalyn, furchte die Stirn und fragte sich erneut, warum Beatrices Tante sich in der letzten Zeit so verändert benahm. „Ich bin froh, dass Sie zu mir gekommen sind. Es tut mir sehr leid, dass Ihr Bruder auf diese schreckliche Weise ums Leben gekommen ist.“
Mrs. Jenkins zog das Taschentuch hervor und schnäuzte sich. „Meinen Bruder Roderick hatte ich sehr gern und war nach seinem Tod niedergeschmettert. Es hat mich sehr verbittert, dass er mir genommen worden war. Ich habe versucht, auch Bernard zu mögen, konnte ihn jedoch nicht so ins Herz schließen wie Roderick. Natürlich tut es mir leid, dass er so gestorben ist, aber Sie müssen nicht denken, dass ich vor Kummer außer mir bin. Ich versichere Ihnen, Miss Eastleigh, dass ich nicht sehr traurig bin.“
„Ich verstehe“, murmelte Rosalyn und empfand aus einem ihr unerklärlichen Grund ein inneres Frösteln. „Dann reden wir nicht mehr über diese furchtbare Geschichte. Haben Sie meinem Bruder gesagt, dass die Hochzeit stattfinden wird?“
„Ich dachte, Sie würden das an meiner Stelle tun“, antwortete Mrs. Jenkins. „Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt. Ich werde heute in meinem Zimmer bleiben. Morgen nehme ich natürlich an der Trauung teil.“
„Geht es Ihnen nicht gut? Leiden Sie wieder an Übelkeit?“, fragte Rosalyn und wunderte sich etwas über Mrs. Jenkins’ Gebaren.
„Nein, nein. Ich fühle mich sehr wohl. Das neue Medikament hilft mir ausgezeichnet. Ich bin sicher, dass von nun an der Brechreiz mich nicht mehr heimsuchen wird.“
Nachdem Mrs. Jenkins den Raum verlassen hatte, blieb Rosalyn noch eine Weile nachdenklich sitzen. Ihr war ein so furchtbarer Gedanke gekommen, dass der Magen sich ihr zusammengekrampft hatte. Aber sie durfte nicht zulassen, dass die Fantasie mit ihr durchging. Das war nicht möglich! Nein, nein, ihre Vermutung war vollkommen falsch. Mrs. Jenkins hatte recht. Der Tod ihres Bruders war wahrscheinlich nur auf einen Unfall zurückzuführen und kein Mord.
Die Zeit bis zum Abend kam Rosalyn wie eine Ewigkeit vor, denn sie sehnte sich danach, Damian endlich wieder in die Arme fallen zu können. Sie brannte darauf, ihm zu erzählen, was sich ereignet hatte.
Ich brauche dich so, Damian, dachte sie. Ich brauche dich so!
Vielleicht traf sie ihn schon heute Abend im Park. Die Sehnsucht, ihn zu sehen, machte sie rastlos und ungeduldig. Selbst der Streit mit dem Bruder verblasste neben ihrem Bedürfnis, Damian zu sehen und in seinen Armen zu liegen. Sie liebte ihn ja so sehr!
Beim Abendessen fiel ihr auf, dass Beatrice sie eigenartig anschaute. Fredericks Verlobte argwöhnte eindeutig, dass man ihr etwas vorenthielt. Auf Drängen des Bruders hatte niemand ihr etwas über den Tod des Onkels erzählt und auch nicht über den Streit zwischen ihrem Verlobten und dessen Schwester.
Das Gespräch zwischen ihm und Rosalyn in der Bibliothek war sehr förmlich verlaufen. Er hatte sich für die Mitteilung bedankt, die Hochzeit werde stattfinden, sich jedoch nicht bei Rosalyn entschuldigt. Auch sie hatte keinen Versuch unternommen, den Bruch zu heilen. Im Gegenteil! Sie war sehr wütend auf Frederick und wäre am liebsten gleich ausgezogen.
Es beruhigte sie, dass er sich nach dem Abendessen zu einem Freund zurückgezogen hatte, bei dem er übernachten wollte. Da er nicht mehr im Haus war, konnte Rosalyn in Ruhe mit ihrer Tante, der zukünftigen Schwägerin und Maria im Salon zusammensitzen und angeregt plaudern. Mrs. Jenkins war in ihrem Zimmer geblieben.
Schließlich zog Rosalyn sich zur Nacht zurück, packte einige Sachen zusammen und wartete auf den richtigen Zeitpunkt, um in den Park zu gehen. Sie ging zur Kommode und stellte fest, dass eine der Pistolen ihres Vaters fehlte und die Schachtel mit der
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