Ein Mensch namens Jesus
gewesen.
Am elften Tag des Nisan, einem Mittwoch, brachen Jesus und die Jünger zu früher Stunde auf, nachdem sie die Nacht, wie Simon Petrus vorgeschlagen hatte, wieder in Betanien verbracht hatten, um eventuelle Nachstellungen in die Irre zu leiten. Die Menge, von der sie nach ihrer Ankunft begleitet wurden, war noch größer und begeisterter als die vom Vortag. Als die Leviten unter dem Vorwand, die Gesänge seien unzusammenhängend und störend, die Leute zum Schweigen bringen wollten, sangen ein paar Männer nur noch lauter.
»Ihr Tempeldiener solltet eigentlich besser unterrichtet sein«, meinte einer von ihnen. »Der Messias ist mitten unter uns in diesem Gotteshaus. Ihr solltet eher schweigen.« Ein wahrer Strom von Pilgern wogte in den Höfen, und die Neuigkeit von der Anwesenheit des Messias verbreitete sich in Windeseile. Aufregung und auch eine gewisse Beklommenheit breitete sich aus. Die Leute in den Verkaufsständen blickten sich auf der Suche nach dem Grund für diese plötzliche Unruhe nach allen Seiten um. Die Leviten schossen wie kopfscheu in alle Richtungen, denn sie wußten weder, wo Jesus war, noch, wie sie ihn erkennen konnten. So glichen sie einer Schar Ameisen, deren Hügel eben angegriffen wurde.
»Seht nur, dort!« rief Jesus plötzlich aus, wobei er mit dem Finger auf die Händler und Wechsler deutete. »Da sind sie schon wieder!« Er stürzte mit federnden Schritten und geballter Faust auf die Stände zu, genau wie einige Jahre zuvor. Seine Jünger umringten ihn kampfbereit mit vorgerecktem Kinn und angespannten Ellbogen. »Ich habe es euch schon einmal gesagt«, rief Jesus, während er den Tisch eines Wechslers umstieß und Hunderte von Silber- und Bronzemünzen auf die Steinfliesen kullerten. »Ich habe euch doch gewarnt, oder?« schrie er und packte einen Mann an seinem bestickten Kragen. »Aber ihr habt nicht verstehen wollen. In den Büchern steht geschrieben: >Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker sein<, ihr aber habt es in eine Räuberhöhle verwandelt!« Er stieß den Mann zurück, der ihm einen Fausthieb versetzen wollte, so daß dieser mit voller Wucht geradewegs in einer Reihe weiterer Tische landete, an denen sich die Jünger schon zu schaffen machten. »Da ist schon wieder dieser Mensch!« schrie jemand und bemühte sich emsig, seine Münzen aufzusammeln. »Holt die Wachen!« Wiederholt war das Wort »Wachen« zu vernehmen, einmal hier, dann wieder dort ertönte der wutentbrannte Ruf. Die Leviten eilten zu Hilfe, aber sie wußten nicht, mit wem sie sich schlugen, denn zahlreiche Pilger unterstützten tatkräftig den von Jesus und seinen Jüngern angezettelten Übergriff. Hier ein Fausthieb, dort ein Fußtritt, da ein gestelltes Bein — bald war ein dichtes Gerangel entstanden, an dem sich die Kreter, Skyther, Parther und Kappadokier, die bei Prügeleien immer gerne mit von der Partie waren, mit Feuereifer beteiligten. Den Leviten aber wie auch der Tempelpolizei mangelte es an Erfahrung mit derartigen Krawallen. Jakobus brachte einen Leviten zu Fall, indem er ihn am Ärmel seines Gewandes um sich schleuderte, Simon Petrus beförderte einen anderen mit einem einzigen kräftigen Schubs in die Arme eines Amtsbruders. »Ruft die Wachen!« schrien nun auch die Leviten, aber die Wachen waren längst da und wußten nicht, wer an dem ganzen Spektakel schuld war. Also packten sie einmal einen Händler, dann wieder einen vollkommen unbeteiligten Pilger.
In dem allgemeinen Durcheinander hatten sich Jesus und seine Jünger einen Rückweg zum Tor gebahnt. Draußen konnte ihnen die Tempelpolizei nichts anhaben. Hier legten sie eine Verschnaufpause ein. Philippus brach in schallendes Gelächter aus. Johannes blickte hoch und musterte die Außenmauern. »Trotzdem: Was für ein Bauwerk!« sagte er.
»Sieh es dir gut an!« erwiderte Jesus. »Bald wird kein Stein mehr auf dem anderen liegen.« Dann fügte er noch hinzu: »Und sein Staub wird unfruchtbar sein.«
Diese Worte schienen Johannes zu verunsichern.
»Du weißt doch«, fuhr Jesus fort, »daß ein Weizenkorn allein bleibt, es sei denn, es fällt in die Erde und stirbt. Aber wenn es stirbt, bringt es reiche Ernte. Ebenso ist der Mensch, der sich liebt, allein, aber wenn er sich verachtet und in seinen Augen stirbt, wird ihm die Ernte des ewigen Lebens zuteil. Dieser Tempel ist ein protziges Bauwerk, angefüllt mit leerem Prunk. Wenn er fällt, wird er keinerlei Frucht bringen.«
Vermutlich war Johannes der einzige, der
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