Ein Pirat zum Verlieben
dann, ohne auch nur hallo zu sagen, wieder zum Gehen gewandt.
Die Augenblicke mit dem ruhigen Mann aus Okinawa hatten sie schmerzlich an zu Hause, an ihr Jahrhundert erinnert, und ein Kloß stieg ihr in die Kehle. Na gut, es hatte auch Vorteile, in der Vergangenheit gelandet zu sein. Keine Luftverschmutzung, Ozonlöcher, Atomkriege, Flugzeugabstürze, Autounfälle – kein Aids. Amerika war ungebändigt und größtenteils unerforscht. Die Indianer konnten noch ungehindert mit den Büffelherden durchs Land ziehen. Die Liste war endlos; das Gleiche galt allerdings für die Nachteile. Miserable medizinische Versorgung – diese Erfahrung hatte sie bereits gemacht –, Vorsorgemedizin war praktisch nicht vorhanden, Kinder arbeiteten in Fabriken, Frauen wurden als Menschen zweiter Klasse angesehen und durften nicht wählen. In Tess’ Augen war am schlimmsten von allem, dass es noch weitere dreiundsiebzig Jahre Sklaverei geben würde.
Womit sollte sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen? Im achtzehnten Jahrhundert bestand mit Sicherheit kein Bedarf an einer Sportlehrerin. Und ihr College-Abschluss? Nutzlos, sagte sie sich. Ein knallharter Aufschlag beim Volleyball war hier nicht gefragt. Körperliche Ertüchtigung stand im Erziehungssystem des Jahres 1789 nicht unbedingt an erster Stelle. Tess versuchte, nicht in Selbstmitleid zu ertrinken, aber eine leise Depression senkte sich über sie, wenn sie an ihre Zeit und die Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts dachte. Was hatte sie denn im Grunde zurückgelassen? Kleidung und einen 65er Mustang. Keine Familie, einige wenige Freunde. Lag irgendjemandem außer Penny genug an ihr, um sich ihretwegen Gedanken zu machen? Tränen verschleierten ihren Blick, und sie kniff die Augen fest zusammen. Ich bin bloß müde. Ich bin hier im Vorteil, rief sie sich in Erinnerung. Ich kenne die Zukunft. Und ich habe viel Zeit, um Dane davon zu überzeugen, dass es tatsächlich so ist.
»Tess?«
Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass er allein war.
»In diesem Sommer, Dane, werden französische Handwerker die Bastille stürmen und damit das Signal für die Revolution gegen die herrschende Klasse setzen«, sagte sie leise, bevor sie sich umdrehte und an die Reling lehnte. Hinter Danes Schulter konnte sie die Triton’s Will sehen, die mit angezündeten Laternen sacht dümpelte. Auch dort herrschte Ruhe. »1812 führen wir Krieg – wieder.« Seine Augen weiteten sich ein wenig. »Gegen England.«
»Sie haben keinen Grund, uns anzugreifen, Tess.« Sein Ton war herablassend.
»Jesus! Hast du da drinnen nicht zugehört? Sie setzen Washington in Brand. Englische Schiffe befahren den Erie-See.« Er wandte kurz den Blick ab, bevor er wieder zu ihr sah. »Keine Sorge. Oliver Perry und seine Flotte werden berühmt für ihre Taktik, die Engländer zu schlagen.«
»Du hast eine lebhafte Fantasie«, bemerkte er spöttisch. Dass die vage Möglichkeit bestand, sie könnte die Wahrheit sagen, irritierte ihn.
Sie zuckte die Achseln. »Na schön. Bis zum Ausbruch der Französischen Revolution sind es nur noch ein paar Wochen. Wir werden ja sehen.« Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn. »Wie lange dauert es, bis Nachrichten aus Europa hierher gelangen?«
»Drei Monate mindestens.«
Sie stöhnte vor Enttäuschung. »Na gut, wenn ich dann noch hier bin, haben wir den Beweis, stimmt’s?«
Dane unterdrückte den Schmerz, den die Worte »wenn ich dann noch hier bin« in ihm hervorriefen, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wohin willst du gehen, Tess? Du hast kein Geld, kein Zuhause, keinen Beschützer.« Er machte eine Pause und warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Abgesehen von mir.«
Sie richtete sich unvermittelt auf. »Hör mal, Blackwell, du bist nicht für mein Wohlergehen verantwortlich; ich bin in meinem Jahrhundert allein zurechtgekommen und werde es auch in deinem schaffen.« Sie rauschte an ihm vorbei in Richtung Niedergang. Er hielt sie am Arm fest. »Lass mich los!«, zischte sie und versuchte sich loszureißen.
»Du musst mit diesem Gerede aufhören, Mädchen. Was ist, wenn jemand anders dich hört?«
Ihre Lippen wurden schmal. »Hör auf, mich eine Lügnerin zu nennen, Blackwell.«
»Nichts von dem, was du gesagt hast, seit wir uns kennen, ist wahr gewesen.«
Ihre Augen loderten bei seiner Unterstellung wie silberne Flammen. »Nur weil du nicht alles weißt, nur weil es nicht klar und einfach ist, muss es noch lange nicht unwahr sein. Ich kann selbst kaum
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