Ein süßer Sommer
ihnen beweisen, dass sie sich völlig umsonst verrückt machten. Da ich erst um fünfzehn Uhr auf meinem Horchposten bei der Witwe sein musste, hatte ich noch Zeit, ein paar weitere Tagebuchseiten zu dechiffrieren. Aber kaum saß ich am Schreibtisch, kam Hamacher in unser Gemeinschaftsbüro. Vielleicht wollte er sich nur erkundigen, ob meine Telefonleitung verkabelt war und Candy nun artig die Wanze trug. Vielleicht wollte er mir auch sagen, dass ab morgen früh eine Vertretung aus Frankfurt hier sei und Philipp Assmann dann nach Hamburg fahren könne. Aber als er das Sammelsurium auf dem Schreibtisch sah, fragte er nur:
«Was ist das?»
«Der Beweis, dass Gerswein vor zwanzig Jahren ein Verhältnis mit Candys Mutter hatte», sagte ich. Hamacher nahm ein Foto auf, betrachtete das Buchstabengewirr mit gerunzelter Stirn.
«Ah ja, und wo steht das?»
«Zeige ich Ihnen, wenn ich alles in eine lesbare Form gebracht habe», sagte ich.
«Der Code ist relativ einfach zu knacken, es ist nur eine elende Fummelei. Einen Text habe ich bereits.» Den zeigte ich ihm auch, er beachtete ihn nicht.
«Überlass das Tamara», verlangte er.
«Die knackt besser als du und muss dafür nicht Buchstaben verschieben. Sie hat ein Programm für solche Kindereien.» Und bei Tamara durfte er sicher sein, dass sie nicht ihre Phantasie spielen ließ, um ihn zu überzeugen. Beim letzten Wort war er bereits auf dem Weg nach draußen, um noch einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Ich ging mit einem Packen Fotos ins Sekretariat, überließ es jedoch nicht Tamara. Sie war anderweitig beschäftigt und gerne bereit, mir eine Kopie ihres Programms für solche Kindereien auf Diskette zu ziehen, mit der ich den Computer in unserem Büro füttern konnte. Dann machte ich mich an die Arbeit. Heutzutage wäre es ein Kinderspiel, Fotos einscannen, Dechiffrierprogramm laufen lassen, fertig. Damals brauchte ich etwa fünfzig Minuten, um das zweite Textstück in eine lesbare Form zu bringen. Dass es so lange dauerte, lag nicht etwa an unserem guten, alten er, der inzwischen immerhin zu einem er hochgerüstet worden war. Es lag ausschließlich an mir. Für jede Zeile brauchte ich ziemlich lange, musste jeden Buchstaben einzeln abtippen und immer wieder nachschauen, damit sie nicht noch mehr durcheinander gerieten. Der Rechner, beziehungsweise das kleine Programm, das Tamara mir zur Verfügung gestellt hatte, brauchte nicht annähernd so lange, um das Chaos zu sortieren. Natürlich las ich sofort vom Bildschirm ab und stellte schon bei den ersten Einträgen fest, dass Helga nicht regelmäßig Tagebuch geführt hatte. Die Texte waren eher Zusammenfassungen von Ereignissen einiger Tage oder sogar Wochen. Auf den tränenreichen Abschied vom Elternhaus, Ende September , das Datum war im Text versteckt, folgte Mitte Oktober. Zwiespältiger Beginn in der Kölner Wohngemeinschaft, acht Leute in vier Zimmern verteilt. Vier Männlein, vier Weiblein, allesamt mit je einem Buchstaben bezeichnet – wie auch Gertrud und Margarete im ersten Text. Ob sich tatsächlich je zwei Männer und zwei Frauen brav ein Zimmer teilten, ließ sich nur anhand der Initialen nicht feststellen. Aber anfangs schien es noch sittsam zugegangen zu sein. Sie waren bloß alle sehr unordentlich, kannten den Unterschied zwischen mein und dein nicht. Helga versuchte, ihre Wohnungsgenossinnen und -genossen umzuerziehen, um das aus dem Elternhaus mitgebrachte Geschirr zu retten, und machte sich damit unbeliebt. Am . November der moralische Kollaps, von dem Candy mir erzählt hatte. A trat mit dem Ansinnen an Helga heran, ihr Bett für die Nacht W zu überlassen und zum Ausgleich in dessen Bett und damit bei G zu nächtigen. Es beruhigte, Candys Schilderung wiederzufinden, obwohl damit überhaupt nichts bewiesen war. Ich tippte das vierte Foto ab. Die Eintragung war im Januar gemacht worden und bezog sich auf den Tod des Vaters. Helga machte sich Vorwürfe, weil sie nicht zur Stelle gewesen war, klagte auch ihre Mutter an, die offenbar verhindert hatte, dass ihre Jüngste rechtzeitig benachrichtigt wurde und Abschied vom Vater nehmen konnte. Ich übersetzte noch die Rückkehr nach Köln und einen vorwurfsvollen Erguss über G – wahrscheinlich Gertrud, die sich einbildete, besser als Helga zu wissen, was gut für sie war. Dann erschien Hamacher im Gemeinschaftsbüro und wurde ziemlich wütend.
«Was treibst du hier? Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst den Kram zu Tamara bringen?» Das tat ich
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