Ein süßer Traum (German Edition)
kürzlich aus den Kriegen in Somalia zurückgekehrt. Er setzte sich auf den harten Stuhl in Sylvias Zimmer und hörte ihr zu, während sie zwanghaft (Schwester Molly sagte, es sei eine Selbstheilung) vom Schicksal der Leute in der St. Luke’s Mission erzählte, die an Aids starben und für die Regierung offenbar unsichtbar waren. Sie redete stundenlang, und er hörte zu. Und dann erzählte er genauso zwanghaft, und sie hörte zu.
Somalia hatte zur Einflusssphäre der Sowjetunion gehört, die dort ihren üblichen Apparat von Gefängnissen, Folterkammern und Todeskommandos eingerichtet hatte. Dann wurde Somalia durch einen geschickten kleinen internationalen Taschenspielertrick amerikanisch, im Tausch gegen einen anderen Teil von Afrika. Naive Bürger hofften und erwarteten, dass die Amerikaner den Überwachungsapparat demontieren und sie befreien würden, aber sie hatten eine für unsere Zeit so wesentliche Tatsache noch nicht begriffen: dass es nichts Stabileres gibt als diesen Apparat. Marxisten und Kommunisten verschiedener Glaubensrichtungen, die unter den Russen gediehen waren und die ihre Feinde gefoltert und eingesperrt und umgebracht hatten, wurden jetzt plötzlich selbst gefoltert und eingesperrt und umgebracht. Im ehemals ziemlich vernünftigen Staat Somalia ging es zu, als hätte man kochendes Wasser in einen Ameisenhaufen geschüttet. Die Strukturen für einen annehmbaren Lebensstil waren zerstört. Jetzt regierten Kriegsherren und Banditen, Stammesoberhäupter und Familienbosse, Kriminelle und Diebe. Die internationalen Hilfsorganisationen waren an ihren Grenzen angelangt; sie konnten kaum mehr etwas ausrichten, besonders weil ihnen weite Teile des Landes wegen des Krieges nicht zugänglich waren.
Der Arzt saß stundenlang auf seinem harten Stuhl und redete, denn er hatte monatelang zugesehen, wie die Leute einander umbrachten. Kurz vor seiner Abreise hatte er am Rand eines Weges gestanden, der durch eine Landschaft führte, die zu Staub vertrocknet war, und zugesehen, wie die Flüchtlinge vor der Hungersnot vorüberzogen. Diese Bilder im Fernsehen zu sehen sei das eine, wie er (um seine Schwatzhaftigkeit zu entschuldigen) sagte, während er sie anstarrte und nicht sie sah, sondern das, was er beschrieb, aber dort zu sein, sei etwas anderes. Vielleicht war Sylvia besonders gut darauf vorbereitet, sich bildlich vorzustellen, was er ihr erzählte, denn in Gedanken musste sie auf diesen staubigen Pfad dreitausend Kilometer weiter nördlich nur Leute aus dem sterbenden Dorf in Kwadere setzen. Aber er hatte auch Flüchtlinge gesehen, die vor Mengistus mordenden Truppen flohen, manche hatten Hackwunden und bluteten, manche trugen ermordete Kinder: Er hatte das tagelang mit angesehen, und weil Sylvias Erfahrung dem nicht entsprach, war es für sie schwer vorstellbar. Und außerdem gab es in Pater McGuires Haus keinen Fernseher.
Er war Arzt, und er hatte hilflos zugesehen, wie Menschen Medikamente brauchten, eine Zuflucht, eine Operation, und um ihnen zu helfen, hatte er nicht mehr gehabt als ein paar Schachteln mit Antibiotika, die nach ein paar Minuten verschwunden waren.
Die Welt ist jetzt voller Menschen, die Krieg, Völkermord, Dürre, Überschwemmungen überlebt haben, und keiner von ihnen wird vergessen, was er erfahren hat, aber es gibt auch die Menschen, die zugesehen haben: tagelang dazustehen und zu sehen, wie ein Volk vorüberströmt, Tausende, Hunderttausende, eine Million, und nichts in der Hand zu haben, und dieser Arzt war dort gewesen und hatte zusehen müssen, und sein Blick war gequält und sein Gesicht gezeichnet, und er konnte nicht aufhören zu reden.
Eine Ärztin aus den Staaten fragte Sylvia, ob sie mit ihr in Zaire arbeiten wolle, fragte aber auch, ob sie dazu imstande sei – es sei ziemlich hart da oben, und Sylvia sagte, es gehe ihr gut, sie sei sehr stark. Als sie sagte, sie habe eine Operation durchgeführt, ohne Chirurgin zu sein, amüsierten sich der Arzt und die Ärztin: Im Feld taten Ärzte, die keine Chirurgen waren, was sie konnten. »Transplantationen sind eher selten, und ich wäre nicht unbedingt für einen Bypass zu haben.«
Schließlich erklärte Sylvia sich einverstanden, nach Somalia zu gehen, mit einem Team, das von Frankreich finanziert wurde. In der Zwischenzeit musste sie zur Mission zurückfahren und Clever und Zebedee besuchen, deren Stimmen, wenn sie mit ihnen telefonierte, wie die Schreie von Vögeln klangen, die in einem Sturm gefangen sind. Sie wusste
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