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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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normalem Ton: »Jetzt muss ich zum Zug«, oder: »Ich bleibe über Nacht und nehme morgen den ersten Zug.« Und der Colin, den sie kannte, war wieder da, er lächelte sogar, wenn auch verwirrt und frustriert. Er musste vollkommen erschöpft sein nach so einem Erguss.
    »Du musst nicht in die Maystock Clinic gehen«, erinnerte sie ihn. »Du kannst es auch lassen. Soll ich Bescheid sagen, dass du dich dagegen entschieden hast?«
    Aber Colin wollte nicht aufhören, zweimal in der Woche nach London zu kommen, in die Maystock Clinic, zu
ihr
, das wusste sie, denn ohne die frustrierende Stunde beim Analytiker konnte er bei ihr nicht schreien und toben, nicht sagen, was er so lange gedacht, aber nicht gesagt hatte, was er nie hatte herauslassen können.
    Wenn Frances eine Stunde lang angeschrien worden war, war sie so müde, dass sie zu Bett ging oder zusammengesunken in einem Sessel saß. Als sie eines Abends im Dunkeln saß, klopfte Julia, öffnete die Tür, sah, dass das Zimmer dunkel war, und bemerkte Frances. Julia machte Licht. Sie hatte gehört, wie Colin seine Mutter anschrie, und war deswegen beunruhigt, aber das war es nicht, was sie nach unten führte.
    »Weißt du, dass Sylvia nicht nach Hause gekommen ist?«
    »Es ist erst zehn Uhr.«
    »Darf ich mich setzen?« Julia setzte sich, und ihre Hände zerrupften das kleine Taschentuch in ihrem Schoß. »Sie ist zu jung, um so spät unterwegs zu sein, mit diesen schlechten Menschen.«
    Sylvia ging manchmal nach der Schule in eine bestimmte Wohnung in Camden Town, wo Jake und seine Kumpane die meisten Nachmittage und Abende verbrachten. Alle waren sie Wahrsager, einige auch professionell, oder sie schrieben für Zeitungen Horoskope, waren eingeweiht in Riten, die sie zum Teil selbst erfunden hatten, nahmen am Tischerücken teil, beschworen Geister und tranken geheimnisvolle Substanzen, die »Seelenbalsam« hießen oder »Bewusstseins-Mix« oder »Essenz der Wahrheit« – im Grunde nichts anderes als Mischungen aus Kräutern oder Gewürzen. Ihre Welt war voller Bedeutungen und Inhalte, die den meisten Menschen völlig fremd waren. Sylvia kam gut bei ihnen an. Sie war ihr Schoßtier, die Neophytin, nach der sich diejenigen sehnen, die vom Wissen besessen sind, und entsprechend vertraute man ihr Geheimnisse von höherer Bedeutung an. Sie mochte diese Leute, weil sie sie mochten, und sie war immer willkommen. Bisher hatte sie sich stets verantwortungsvoll verhalten und angerufen, um zu sagen, dass sie später als gewöhnlich nach Hause komme, und wenn es dann noch später wurde, rief sie Julia noch einmal an.
    »Was soll ich sagen, Sylvia, wenn du mit solchen Leuten zusammen sein musst?«
    Auch Frances gefiel es nicht, aber sie wusste, dass das Mädchen der Sache entwachsen würde.
    Für Julia war es eine Tragödie, dass ihr kleines Lamm für sie verloren war, dass kranke Verrückte es weggelockt hatten.
    »Diese Leute sind nicht normal, Frances«, sagte sie an diesem Abend verzweifelt und den Tränen nahe.
    Frances verzichtete darauf, sie zu necken: »Wer ist schon normal?« – Julia hätte angefangen, Definitionen zu geben. Sie wusste, dass Julia nicht nur aus Sorge um Sylvia gekommen war, und wartete ab.
    »Und wie kommt es, dass ein Sohn mit seiner Mutter so reden darf, wie Colin mit dir redet?«
    »Er muss es jemandem sagen.«
    »Das ist doch lächerlich, was er sagt. Ich kann alles hören, das ganze Haus kann es hören.«
    »Er kann nicht mit Johnny reden, also kommt er zu mir.«
    »Es erstaunt mich sehr«, sagte Julia, »dass die Jungen sich so benehmen dürfen. Warum nur?«
    »Sie sind verkorkst«, sagte Frances. »Und das ist seltsam, Julia, findest du das nicht auch?«
    »Nein, ihr Benehmen ist seltsam, das ist es«, sagte Julia.
    »Hör zu, ich denke, sie sind so privilegiert, sie haben alles, sie haben mehr, als wir alle je hatten – bei dir war es vielleicht anders.«
    »Nein, ich hatte nicht jede Woche ein neues Kleid. Und ich habe nicht gestohlen.« Julia erhob ihre Stimme. »Deine Räuberhöhle, Frances, das sind alles Diebe, und sie haben keine Moral. Wenn sie etwas haben wollen, gehen sie hin und stehlen es.«
    »Andrew nicht, und Colin auch nicht. Und Sophie sicher auch nicht.«
    »Das Haus ist voller … du lässt zu, dass sie hier sind, sie nutzen dich aus, und es sind Diebe und Lügner. Das hier war einmal ein ehrenwertes Haus. Unsere Familie war ehrbar, und jeder hat uns respektiert.«
    »Ja, und ich frage mich, warum sie so sind. Sie haben

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