Eine dunkle Geschichte (German Edition)
Herr von Hauteserre wechselte mit seiner Frau und Fräulein Goujet mitleidige Blicke. Eine furchtbare Neugier hielt alle wach. Peyrade kam mit einer Kassette aus geschnitztem Sandelholz in den Salon herab; sie mochte dereinst vom Admiral von Simeuse aus China mitgebracht sein. Es war ein hübscher flacher Kasten in der Größe eines Quartbandes.
Peyrade gab Corentin einen Wink und führte ihn in die Fensternische.
»Ich hab' es!« sagte er. »Dieser Michu, der Marion achthunderttausend Franken in Gold für Gondreville zahlen konnte, und der jetzt den Malin totschießen wollte, muß der Vertrauensmann der Simeuses sein. Als er Marion bedroht hat, muß er das gleiche Interesse verfolgt haben wie gestern, als er auf Malin anlegte. Er schien mir zu Gedanken fähig, aber er hat nur einen; er weiß von der Sache und wird hergekommen sein, um sie zu warnen.«
»Malin wird mit seinem Freund, dem Notar, von der Verschwörung gesprochen haben,« sagte Corentin, die Schlußfolgerungen seines Kollegen fortsetzend, »und Michu, der im Hinterhalt lag, wird sie zweifellos von den Simeuses haben sprechen hören. Er kann seinen Flintenschuß nämlich nur aufgeschoben haben, um ein Unglück zu verhüten, das ihm noch größer schien als der Verlust von Gondreville.«
»Er hatte uns richtig als das erkannt, was wir sind«, sagte Peyrade. »Daher erschien mir auch der Verstand dieses Bauern im Augenblick wunderbar.«
»Oh, das beweist, daß er auf seiner Hut war«, entgegnete Corentin. »Aber alles in allem, Alterchen, wollen wir uns nicht täuschen. Hier stinkts nach Verrat, und ursprüngliche Menschen riechen das von weitem.«
»Um so stärker sind wir«, versetzte der Provenzale. »Lassen Sie den Brigadier von Arcis kommen«, rief Corentin einem der Gendarmen zu. – »Schicken wir nach seinem Pavillon«, schlug er Peyrade vor. »Violette, unser Ohr, ist dort«, entgegnete der Provenzale.
»Wir sind abgefahren, ohne Nachricht von ihm zu haben«, sagte Corentin. »Wir hätten Sabatier mitnehmen sollen. Zu zweit sind wir nicht genug.« Als er den Gendarmen eintreten sah, nahm er ihn zwischen sich und Peyrade und sagte: »Brigadier, lassen Sie sich nicht über den Löffel barbieren wie vorhin der Brigadier von Troyes. Michu ist scheinbar in die Sache verwickelt. Reiten Sie nach seinem Pavillon, haben Sie ein Auge auf alles, und erstatten Sie uns Bericht.«
»Einer meiner Leute hat im Walde Pferde gehört, als die kleinen Dienstboten verhaftet wurden, und ich habe einige tüchtige Kerle hinter den Ausreißern hergeschickt, die sich darin verstecken möchten«, entgegnete der Gendarm.
Er ging hinaus. Der Galopp seines Pferdes dröhnte auf dem Pflaster und verhallte rasch.
»Also sie marschieren auf Paris oder ziehen sich nach Deutschland zurück«, sagte Gorentin sich. Er setzte sich, zog ein Notizbuch aus der Tasche seines Spencers, schrieb mit Bleistift zwei Befehle, versiegelte sie und winkte einen der Gendarmen heran.
»Im gestreckten Galopp nach Troyes. Wecken Sie den Präfekten und sagen Sie ihm, er solle die Dämmerung benutzen, um den (optischen) Telegraphen arbeiten zu lassen.«
Der Gendarm ritt in vollem Galopp davon. Der Sinn dieses Auftrages und Corentins Absicht waren so klar, daß allen Schloßbewohnern das Herz stillstand. Aber diese neue Besorgnis war gleichsam nur ein Schlag mehr in ihrem Martyrium, denn in diesem Augenblick hatten sie die Blicke auf die kostbare Kassette gerichtet.
Während die beiden Agenten miteinander plauderten, beobachteten sie die Sprache dieser flammenden Blicke. Eine Art kalte Wut tobte in den Herzen der beiden fühllosen Menschen, die sich an dem allgemeinen Entsetzen weideten. Der Polizist kennt alle Aufregungen des Jägers, aber wo der eine die Kräfte des Körpers und des Geistes anspannt, um einen Hasen, ein Rebhuhn oder ein Reh zu erlegen, handelt es sich für den andern darum, den Staat oder den Herrscher zu retten und eine große Belohnung zu verdienen. So ist die Menschenjagd der andern um soviel überlegen, als Menschen und Tiere voneinander verschieden sind. Überdies muß der Spion sich in seiner Rolle zu der ganzen Größe und Bedeutung der Interessen erheben, denen er dient. Ohne diesem Berufe anzugehören, kann also ein jeder sich vorstellen, daß die Seele dabei ebensoviel Leidenschaft aufwendet wie der Jäger beim Verfolgen des Wildes. Je näher daher die beiden dem Lichte kamen, um so leidenschaftlicher wurden sie. Aber ihre Haltung, ihre Augen blieben ruhig und
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