Eine Frau in Berlin
ja nie, ob und wann man einander wiedersieht. Auf dem Rückweg sprang ich noch zu der angeheirateten Nichte der Witwe hinauf – zu der jungen werdenden Mutter, die mit ihrer Freundin Frieda zusammen haust und auf ihren Barns wartet. Lag auf dem Rücken, die Kleine, sah lieb aus und leuchtete von innen. Aber der gewölbte Bauch saß auf einem allzu mageren Körper, sprang förmlich daraus hervor. Man glaubt zu sehen, wie das werdende Kind alle Säfte und Kräfte aus dem Mutterleib zieht. Von dem werdenden Vater natürlich keine Nachricht. Er schien ganz vergessen über den täglichen Nöten der Nahrungs- und Holzsuche. Da es in der Wohnung nur einen – jetzt sinnlosen – Elektroherd gibt, haben sich die Mädels auf dem Balkon aus Ziegelsteinen eine Art Herd gebaut, den sie mit mühsam gesuchten Fichtenzweigen speisen. Es dauert ewig, bis das bißchen Brei gar ist. Zudem muß Frieda ständig vor dem Feuerchen hocken, es anstacheln und Zweige nachlegen. Es roch weihnachtlich vom Harz.
Dann der Heimweg, marschieren, marschieren. Ein Anschlag in Deutsch und Russisch meldet, daß demnächst ein »freier Markt« eröffnet werden soll. Von wem? Für wen? Eine »Wandzeitung« nennt neue Stadtoberhäupter. Lauter unbekannte Größen, vermutlich heimgekehrte Emigranten aus Moskau. Bunte Trupps von Italienern kamen mir entgegen, singend, mit Bündeln und Koffern beladen, offenbar zur Heimreise gerüstet. Wieder Fahrräder, die auf den nackten Felgen rasselten. In Schöneberg wurde es einsamer, und der Gespenstertunnel an der S-Bahn war schwarz und verlassen. Ich war froh, als ich ihn hinter mir hatte, als ich die Häuser unseres Blocks sah. Kehrte heim wie von einer großen Reise und teilte von meinen Neuigkeiten aus.
Müde Füße, schwüler Tag. Nun bringt der Abend Ruhe und Regen.
Dienstag, 22. Mai 1945
Früh um 6 kroch die Witwe schon in der Wohnung herum. Am Vorabend hatte sie durch unseren Hausobmann einen Zettel erhalten. (Hausobmann – auch so eine neue Erfindung! Bei uns spielt der Mann von der Hamburgerin diese Rolle.) Der Befehl, ein vervielfältigter Schnipsel, besagt, daß die Witwe sich um 8 Uhr vor dem Rathaus anzufinden habe, zur Arbeit. Nichts weiter. »Wäre fein, wenn's zum Spargelstechen wäre«, meinte sie und malte uns bereits die köstlichsten Spargelmähler aus. Also habe ich heute die Hausfrau gespielt, kochte für Herrn Pauli und mich eine Erbsmehlsuppe. Gegen 14 Uhr lautes Rufen auf der Straße vor unserem Haus: ein von Amts wegen bestellter Ausrufer wie vor tausend Jahren.
Er hatte sich unter dem Ahorn aufgebaut und leierte von einem Blatt Papier herunter, daß alle arbeitsfähigen und noch nicht arbeitstätigen Männer und Frauen zwischen fünfzehn und fünfundfünfzig Jahren sich sofort zwecks Arbeitseinsatz vor dem Rathaus einzufinden hätten.
Große Diskussion im Treppenhaus: Sollen wir hingehen oder nicht? Die Buchhändlerin war dafür, da sie befürchtete, wir könnten sonst zwangsweise geholt werden. Ich schloß mich ihr an. Zusammen wanderten wir los. Ich fragte sie, ob sie schon wüßte, was mit ihrer Buchhandlung los sei. »Ende April abgebrannt«, war die knappe Antwort. Trotzdem sieht die Buchhändlerin optimistisch in die Zukunft. Im Keller, so sagt sie, hat sie eine Riesenkiste voller Bücher durchs Dritte Reich gerettet – meist »verbotene« Literatur. Das heißt, was man bei uns seit 1933 verboten hat: erst die Bücher von Juden und Emigranten, später die Bücher unserer Kriegsgegner. »Danach giepern doch jetzt die Leute«, meint die Buchhändlerin. »Wir werden in unserem Geschäft eine Ecke aufmauern und darin eine Leihbücherei einrichten, mit hohem Pfandgeld natürlich, sonst sind unsere Bücher gleich futsch.« Ich habe mich als erste Leserin angemeldet, habe allerlei nachzuholen.
Vor der Rathaustreppe drängelten sich schon viele Frauen. Männer hingegen sah man nur vereinzelt. Ein Jüngling verarbeitete mit viel Geschrei und Gefuchtel unsere Namen zu einer Liste. Die Straße vor dem Rathaus bot das Bild einer wildbelebten Baustelle. Der Graben in der Mitte des Fahrdamms, der zu geheimnisvollen Kriegszwecken seinerzeit von etlichen Deutschen und vielen in Wattejacken gehüllten Russenmädchen ausgehoben worden ist, wird nun von den Unsrigen zugeschüttet – ein Vorgang, dessen Logik mir einleuchtet. Mit Sand, Ziegeltrümmern und schwarzem Brandschutt wird der Graben ausgefüllt. Frauen schieben Loren, sie rollen die Füllmasse an den Grabenrand, kippen sie hinein.
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