Eine Geschichte von Liebe und Feuer
wesentlich heimischer in ihrem Büro, wo sie es mit Kalkulationen und Rechnungswesen zu tun hatte, und alle im Raum atmeten auf, als sie drauÃen war.
Katerina wurde sofort die Arbeit an einem Besatz übergeben. Nur junge Augen und kleine Finger wie die ihren konnten die winzigen Kristalle aufnehmen und mit einer Nadel GröÃe 9 umgehen, um sie anzunähen. Am Ende des Tages hatte sie alle um den Saum des Kleids befestigt, und die anderen Frauen traten hinzu, um ihre Arbeit zu bewundern.
»Wirklich sehr ordentlich!«
»Und so gleichmäÃig!«
»Perfekt, Katerina!«
Der Ãberschwang ihres Lobs machte das Mädchen fast verlegen, aber es hatte gehört, was es wissen musste. Sie konnte mithalten.
Von diesem Tag an blühte sie auf und wurde immer für Aufgaben herangezogen, die besonderes Geschick erforderten. Ihre Stiche beim Sticken, Applizieren, Paspelieren und Rüschen waren so fein, dass sie mit bloÃem Auge kaum sichtbar waren, und so gleichmäÃig, dass sie jeden verblüfften. Egal, ob Flachstich, Federstich, Fischgrätstich oder Kettenstich, immer bewegte sich ihre Nadel im gleichen mechanischen Rhythmus durch den Stoff wie die Maschinen im angrenzenden Raum.
Manchmal jedoch löste allein das Einfädeln ein übermächtiges Heimwehgefühl in ihr aus, und gerade während der langen Stunden im Atelier musste sie besonders oft an ihre Mutter denken. Es war immer derselbe Moment, der vor ihr auftauchte, ein Moment, in dem ihrer kindlichen Auffassung nach das Leben perfekt gewesen war. Dabei saà ihre Mutter mit sehr geradem Rücken auf einem Suhl. Sie stickte an einem Kirchengewand, das über ihren Schoà gebreitet lag, und in dem Licht, das durchs Fenster einfiel, blitzte der goldene Faden auf.
»Sitz nie krumm da«, ermahnte sie Katerina immer, und jedes Mal, wenn dieses Bild vor ihr auftauchte, richtete sie sich automatisch auf.
Während all dieser Zeit bekam Katerina vom Elend in groÃen Teilen Thessalonikis nichts mit. Der Weg durch die Gassen zum Atelier der Morenos führte sie nicht an den Baracken vorbei, wo nach dem Brand von 1917 noch immer zahlreiche Einwohner leben mussten. Und sie kam auch nicht in die Nähe der StraÃen, wo in Holzhütten zwischen prächtigen Apartmentanlagen eingezwängt immer noch Flüchtlinge aus Kleinasien wie Zigeuner hausten. Und vor allem kam sie nie in die Nähe der Bahnhofsgegend, die als die verrufenste Ecke der Stadt galt, wo zwischen den Blechhütten Ratten an offenen Abwasserkanälen entlangliefen und jede zweite Tür in eine Drogenhöhle oder ein Bordell führte.
Obwohl die Häuser in der IrinistraÃe nicht komfortabel und überbelegt waren, herrschte hier Wohlstand, verglichen mit vielen anderen Teilen Thessalonikis. Die Arbeitslosigkeit war hoch, aber selbst unter denen, die Jobs hatten, brachen immer wieder Unruhen aus. Im Gegensatz zu Saul Moreno kümmerten sich die meisten Unternehmer nicht um das Wohlergehen ihrer Arbeiter, und in den späten Zwanzigerjahren kam es ständig zu Protesten. Viele der Unruhen gingen von den Tabakarbeitern aus, die um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne kämpften, aber nicht nur sie begehrten auf. Auch Transportarbeiter, Drucker, Bäcker und Metzger traten in Streik. Diese Verflechtung von Armut und Ausbeutung bildete den perfekten Nährboden für kommunistische Ideen. Die Nationalisten waren gegenüber der aufstrebenden Linken extrem feindlich eingestellt, aber ihr Hass hatte noch eine weitere Zielrichtung: die Juden, denen sie mangelnde Bereitschaft vorwarfen, sich zu assimilieren.
Während des ganzen Jahrzehnts hatte die rechtsgerichtete Makedonia Hass und Missgunst gegen die Juden geschürt und Gerüchte verbreitet, sie planten einen Staatsstreich. Sie erinnerte ihre Leser, dass 1912 , als Thessaloniki vom Osmanischen Reich an Griechenland überging, die Juden der griechischen Armee einen kühlen Empfang bereitet hätten. Viele sprächen nicht einmal die Landessprache, sondern verständigten sich auf Ladino. Mit anderen Worten, sie seien weder Patrioten noch echte Griechen. Die Liste ihrer »Verbrechen« war laut der Makedonia sehr lang.
Es war eine Zeit zunehmender Feindseligkeit, und die verbreitete Armut unter den kleinasiatischen Griechen trug dazu bei, die Animositäten weiter zu schüren. Eines Tages, als Saul Moreno wie üblich frühmorgens zum Atelier
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