Eine Katze hinter den Kulissen
Plötzlich fragte ich mich, ob es wohl möglich war,
daß Pancho glaubte, Tony sei der Feind, der ihn sein Leben lang
in meiner Wohnung verfolgt hatte? Der Anlaß für seine
ununterbrochenen Fluchtversuche durch die ganze Bude? Konnte es sein,
daß er jetzt, wo er seinen Verfolger endlich gestellt hatte, den
Spieß umdrehen wollte?
»Tony ist ein Freund«, versicherte ich dem Kater und streckte die Hand aus, um Basillios Kopf zu streicheln.
Was immer Pancho auch im Schilde geführt haben
mochte, meine plötzliche Bewegung jagte ihm einen Schrecken ein.
Er floh vom Bett und zischte den Flur entlang.
»Deine Wohnung wird gefährlich, Alice. Ich
frage mich, wie viele Typen hier wohl hergelockt und dann lebend von
diesem Ungeheuer verspeist worden sind? Und was macht das andere
Monster eigentlich dabei? Sieht es zu?«
Ich kochte Kaffee und brachte Tony eine Tasse ins Badezimmer. Beim Frühstück lachten wir viel.
Um neun Uhr waren wir in der Seventy-second Street,
am Eingang zum Riverside Park. Dieser schmale, längliche Park, der
sich über vier Meilen am Ufer des Hudson entlangzieht, von unserem
Standort über den Trinity-Friedhof bis zur One Hundred Fifty-third
Street, ist schon seit langem ein Paradies für Obdachlose. Sie
versammeln sich meist an den Kreuzungen, wo der Park breiter wird, um
den Verkehr in Richtung Riverside Drive aufzunehmen: an der
Seventy-second, Seventy-ninth, Eighty-sixth und Ninety-sixth Street. In
diesen Teilen des Parks gibt es Tunnellabyrinthe, Abhänge und
Felsen.
Die ersten beiden Stunden unserer Ermittlungen an
diesem Morgen brachten gar nichts. Wir sprachen mit zehn oder
zwölf Obdachlosen, von denen die meisten in Kartons oder Schuppen
unter der Überführung an der Seventy-second Street Schutz vor
der Kälte gesucht hatten. Aber keiner von ihnen kannte den Mann
auf den Fotos, die wir ihnen zeigten.
Aber als wir den Riverside Drive in nördlicher
Richtung entlanggingen, hatte das Schicksal ein Einsehen mit uns. Ein
dicker Mann stand an der Bushaltestelle bei der Seventy-fifth Street
und bettelte, und das auf recht außergewöhnliche Weise. Er
hatte sich gegen den Unterstand gelehnt und stand, auf eine einzelne
Krücke gestützt, um den Passanten sein ziemlich ekelhaftes,
geschwollenes und übel zugerichtetes Bein präsentieren zu
können. In der Hand hielt er einen Plastikbecher, in dem
Münzen klapperten, wenn er ihn schüttelte. Indem er sein
zerschundenes Bein zur Schau stellte, wollte er Mitleid erwecken, und
in der Tat war es kaum möglich, ungerührt zu bleiben
angesichts dieses wirklich fürchterlichen Anblicks.
Der korpulente Mann trug eine dieser wollenen
Baseballmützen, auf der SAN DIEGO CHARGERS stand. Er war weit weg
von San Diego. Sein Bart war verfilzt und schmutzig, und er trug
mehrere Jacken übereinander, die nur halb zugeknöpft waren.
Seine Augen waren blutunterlaufen, und er roch nach saurem Wein.
»Entschuldigen Sie, kennen Sie diesen
Mann«, fragte Tony und versuchte, in sicherer Entfernung von dem
kranken Bein zu bleiben, aber trotzdem nah genug heranzutreten, um dem
Mann die Fotos zeigen zu können. Der Typ nahm Tony eines aus der
Hand, drehte es auf den Kopf, sagte »Nee« und grinste
verschlagen.
Tony nahm ihm wütend das Foto weg, drehte es
richtig herum und reichte es ihm wieder, diesmal zusammen mit einem
Zehn-Dollar-Schein.
Der dicke Mann schaute eine Minute lang auf das Geld,
bevor er es einsteckte. »Lenny hat mir immer fünfzig
gegeben«, sagte er verächtlich.
»Was?« sagte Tony, vergaß alle Vorsicht und trat ein bißchen näher an den Mann und sein Bein heran.
»Sie haben Lenny gekannt?« fragte ich.
»Manchmal hat er mir sogar hundert gegeben.«
Der Fall nahm eine neue, unerwartete Wendung. Als
Dobrynin ausstieg, war er vielleicht übergeschnappt, vielleicht
aber auch nicht. Das wußten wir nicht mit Bestimmtheit. Aber alle
hatten übereinstimmend behauptet, daß er pleite gewesen war.
Wenn man diesem Mann glauben konnte, dann war unser Lenny durch die
Gegend gelaufen und hatte Hundert-Dollar-Scheine verteilt.
Der Dicke seufzte nur, als wir ihm weitere Fragen
über Lenny stellten. »Fragen Sie nicht mich«,
verabschiedete er uns, »fragen Sie Fay. Sie weiß mehr als
ich.«
Es stellte sich heraus, daß Fay beim Bootsteich
lebte. Er zeigte uns die Richtung und meinte, wir sollten sagen, Harry
habe uns geschickt. »Ja, Harry«, wiederholte er ungeduldig.
»Das bin ich. Fragen Sie Fay.« Und er fing wieder an mit
seinem Becher zu
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