Eine Messe für die Stadt Arras
erwiderte gütig:
»Jeder weiß, daß die Grafen de Saxe Brabants Blüte sind. Es ist also selbstverständlich, daß ein Klümpchen jüdischen Kotes Euren Mantel nicht besudeln kann!«
Ich spürte, wie nach diesen Worten eine Mauer aus Argwohn und eisiger Ablehnung um den Grafen emporwuchs.
Damit war die Beratung schon fast ans Ende gelangt, nur dies sagte Albert noch:
»Mein christliches Gewissen flüstert mir zu, daß der arme Celus nicht schuld an dem heute Vorgefallenen ist. Folglich bitte ich den Rat, zu beschließen, daß man der Gemeinde seinen Leib herausgebe. Mögen sie ihn begraben nach jüdischem Brauch. Was aber die Gemeinde selber angeht, so kehren wir noch einmal zu der Angelegenheit zurück.«
Und so beschloß es der Rat. Danach gingen alle wieder an ihre Beschäftigung, erfüllt von heiligem Zorn. An diesem Abend entschlummerten sie gerührt von der eigenen Güte und bereit, der Gemeinde Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Lauter waren sie und achtbar wie nie zuvor. Zu Häupten eines jeden von ihnen stand der Engel des heiligen Krieges, den sie bereits angekündigt hatten…
Was mich anging, so erinnere ich mich ganz genau, daß ich in jener Nacht kein Auge zutat. Ängste peinigten mich, die ich heute kaum in Worte fassen könnte; denn immerhin sind seit jenen Vorfällen bereits der Herbst und auch ein tüchtiges Stück Winter ins Land gegangen. Teilweise hat der flandrische Schnee meine Erinnerungen zugeschüttet, und die Winde vom Kanal her haben mir die mannigfaltigen Bilder aus dem Kopf gefegt. Nur auf so viel kann ich mich noch besinnen, daß ich, als die Sonne aufging und sich der Himmel ein wenig erhellte, einen scheußlichen Traum hatte. Mir träumte, ich durchmesse unbekanntes Terrain, es scheint leer, wie aus einem einzigen Felsbrocken herausgehauen. Meine Füße hinterlassen keine Spuren auf der Erdoberfläche. Rings um mich her weder Mensch noch Tier, kein Baum, kein Strauch. Nackter harter Stein erstreckt sich bis zum Horizont, und ich bin allein unter dem Himmelsgewölbe. – Das Ganze dauerte wohl nicht lange; denn als ich die Augen öffnete, hing die Sonne noch niedrig über den Dächern der Stadt, und die durchdringende Kälte der Nacht war noch nicht gewichen. Aber auch wenn der Traum nur kurz und flüchtig gewesen war, so begriff ich doch beim Erwachen, daß ich niemals zuvor so schmerzlich und unmittelbar mit Gott und mit meinem christlichen Glauben in Berührung gekommen war.
Mein ganzes Leben hindurch hat mich das Gefühl des Einsamseins begleitet, aber ich bin stets davor geflohen, habe mich in die Gemeinschaft mit anderen Menschen geflüchtet, um dank dieser Zufluchtsstätte flott und sicher zu leben. An jenem Morgen verstand ich, wie trügerisch all meine Bemühungen gewesen waren. Da sah ich mich nun vereinsamt in der Welt, einsam im Angesicht Gottes, und ich wußte auf einmal, wie hilflos ich bin! Entsetzliche Angst packte mich. Was bedeute ich schon im Vergleich zu dieser riesigen Welt, die mir zur Wohnung gegeben ward? durchfuhr es mich. Ich bin wie ein herrenloser Hund oder ein verirrtes, lahmendes Reitpferd oder wie ein vom Ast gewehtes Blatt. Ich wandere meines Weges in der Meinung, ich kenne die Richtung, aber das ist törichte Einbildung; denn in Wirklichkeit habe ich keine Ahnung, wo Osten, Westen, Norden und Süden liegen. Mühsam schreite ich aus, ohne auch nur Fußspuren auf dieser grausamen und feindseligen Erde zu hinterlassen, und vielleicht kehre ich unaufhörlich zu immer demselben Punkt zurück, der nicht gekennzeichnet ist und sich durch nichts hervorhebt. Nur meine wachsende Erschöpfung läßt mich an dem Gedanken Erquickung finden, daß ich doch auf ein Ziel zustrebe, etwas hinterlasse und etwas anderes mich auf der weiteren Strecke erwartet. Aber wenn ich in die Runde blicke, vorwärts, rückwärts oder zur Seite schaue, sehe ich immer dasselbe: eine unfaßbare, unbeschreibliche Leere, die so gespenstisch ist, daß einem die Haare zu Berge stehen – und das Herz flattert wie ein gefangener Vogel. Denn hier gibt es keinen Wertmesser für meine Anstrengungen, nur Zeit und Raum, nur den alles erfüllenden Gott und mich in seiner steinernen Gegenwart.
Ich erinnere mich noch gut an diesen furchtbaren Morgen. Nachdem ich mich von meiner Liegestatt erhoben hatte, schlug ich Lärm, und in der Tür erschien sogleich mein Leibdiener, ein Mensch ohne jede Grazie, den ich schon seit einigen Jahren mehr aus Bequemlichkeit denn aus Freude bei mir behielt.
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