Eine Schwester zum Glück
für einen raschen Kuss zu ihm, und ich ergriff die Flucht. »Gute Nacht!«, rief ich von der Tür aus.
»Warte!« Mackie griff nach dem Film, den sie ausgeliehen hatte. Es geschah in einer Nacht . Mein Lieblingsfilm. Ein Friedensangebot. »Es tut mir leid«, meinte sie.
»Nein, mir tut es leid«, sagte ich. Und dann: »Mir geht’s heute einfach nicht sonderlich gut.«
»Steig wieder ins Bett«, sagte sie. »Wir können ihn uns alle gemeinsam anschauen.«
Ich sah Clive nicht an. »Ich brauche Schlaf«, erklärte ich ihr.
»Okay.« Sie gab schnell nach – wie jemand, der eine bessere Alternative hat: jemanden, der früher als erwartet von einer Geschäftsreise zurückkam und gleich auf der anderen Seite des Zimmers stand.
Dann beugte sie sich vor, um mir einen Gutenachtkuss auf die Wange zu geben. In dem Augenblick war ich mir sicher, dass sie es herausfinden würde. Sie würde seinen Duft an mir riechen, oder sie würde ein Haar von ihm finden – irgendein forensischer Anhaltspunkt würde uns auffliegen lassen. Doch sie merkte nichts. Sie gab mir nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sagte: »Gute Besserung.«
Natürlich gab es nichts herauszufinden. Deshalb fand ich auch, dass Clive recht hatte, es Mackie nicht zu erzählen. Ihr davon zu erzählen würde nur dazu führen, dass sie sich Sorgen machte, obwohl es doch in Wirklichkeit nichts gab, worüber sie sich Sorgen machen musste. Ihr davon zu erzählen würde nur unser Zusammenleben und unser Leihmutter-Arrangement verkomplizieren. Am besten vergaß man es so schnell wie möglich. Niemand hatte etwas Falsches getan. Außer vielleicht ich. Ich gab mir nicht die Schuld an dem Moment, da ich praktisch geschlafen hatte – aber ich fühlte mich schuldig, dass es mir gefallen hatte.
Clive würde es sehr schnell wieder vergessen. Am nächsten Morgen würde er wieder mit mir herumalbern, wie er es mit jedem tat. Keine vielsagenden Blicke, keine besondere Bedeutung bei irgendetwas, das er sagte oder tat. Der Kuss wäre aus seinen Gedanken verschwunden– zweifellos ersetzt von zahllosen späteren und legitimen Küssen von der Liebe seines Lebens.
Ich hingegen hatte keine anderen Küsse, die den Kuss hätten ersetzen können – und ich würde ihn nicht so schnell vergessen. Jener Moment mit Clive würde mir noch lange im Kopf herumschwirren. Vielleicht waren wir alle zu großspurig, als wir glaubten, das komplizierte Geflecht der Evolution aus Liebe und Kinderkriegen überlisten zu können. Schließlich trug ich das Kind dieses Mannes in meinem Körper. Selbst wenn das Baby da auf eine Art und Weise reingekommen war, die nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem natürlichen Vorgang hatte, konnte man von meinem Körper nicht erwarten, dass er sich dessen bewusst war. Vielleicht spürte er eine gewisse Verbindung. Vielleicht nahm er Dinge an, was uns beide betraf. Vielleicht brachte dieses ganze Ein-Kind-vom-Ehemann-meiner-Schwester-Projekt Komplikationen und indirekte Folgen bis hin zur Zellebene mit sich, über die ich mir nie auch nur einen Gedanken gemacht hatte. Es war möglich, dass jener Moment mit Clive mich so traf, wie er es tat, weil ich über einen unsichtbaren Golfstrom der Leidenschaft und des Menschseins und des Lebens gestolpert war, von dem ich vorher nichts gewusst hatte – etwas, das unendlich viel größer und mächtiger war als ich selbst.
Vielleicht war es das. Oder – und das schien mir wahrscheinlicher – es lag einfach daran, dass ich den letzten Kuss davor bei einem Blind Date von einem Veganer namens Maurice bekommen hatte, der nach Baba Ghanoush und Zigaretten gerochen und versucht hatte, mit folgendem Spruch nach oben in mein Apartment zu kommen: »Rotschopf ist nett, weil feurig im Bett.« Eine andere Erklärung wäre, dass ich die sanften Berührungen, die ich im letzten halben Jahr gespürt hatte, an einer Hand abzählen konnte. Und keine davon war außergewöhnlich gewesen. Vielleicht mit Ausnahme von Everett Thompsons Ellbogen.
Als ich an diesem Abend in mein Zimmer zurückkehrte, zog ich ein Blatt Papier heraus und schrieb darauf das Datum für den Kaiserschnitt in zweieinhalb Zentimeter großen Druckbuchstaben: 20. September. Dann legte ich den Zettel mitten auf mein Kopfkissen und starrte ihn an. Die Zeitspanne von März bis Oktober schien mir nicht unmöglich zu bewältigen. So einen Zeitraum hatte ich schon unzählige Male erlebt, ohne es auch nur zu merken. Durch den Belüftungsschacht hörte ich leises,
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