Eine Schwester zum Glück
nicht, dass du mich dazu bringst. Die Tittenmaus. Ich spreche von der Tittenmaus!«
»Oh«, sagte ich freundlich, dehnte den Laut und nickte. »Die Tittenmaus! Wie geht’s ihr?«
Nach langem Schweigen sagte J. J.: »Sie hat kürzlich einen Selbstmordversuch begangen.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Schließ lich brachte ich zustande: »Bitte sag jetzt, dass du das nicht ernst gemeint hast.« Doch ich wusste bereits, dass es so war.
»Du musst für mich wo hinfahren«, erklärte er dann. »Kannst du das tun?« Auf einmal klang er weniger betrunken, dafür eindringlicher.
»Kann ich.« Ich klang genauso eindringlich. »Auf jeden Fall.« Ich sah mich im Zimmer um, betrachtete die gan zen Pärchengesichter, die mir immer noch zugewandt wa ren, inmitten des leichten Duftgemischs aus Parfum, Haarspray und den rauchigen Küchengerüchen von Clives Essen – sie alle warteten gespannt darauf, dass ich den Anruf beendete und ihnen erzählte, was los war. Allen voran Mackie. Ich wusste, dass sie mich später nach jedem einzelnen Detail fragen würde, aber ich wusste auch, dass ich ihr nur das Gröbste erzählen und es dabei bewenden lassen würde.
»Gib mir eine Sekunde«, sagte ich zu J. J. Ich hatte immer noch ihre Aufmerksamkeit. Es war nicht zu spät für einen aufsehenerregenden Abgang.
Dann machte ich einen Schritt auf Everetts Bierflasche zu, die immer noch auf dem Tisch stand. Ich hob sie hoch, richtete den Blick auf Everett – und drehte, ohne den Blickkontakt abzubrechen, die Flasche herum und goss ihm das Bier in den Schoß.
Dann sagte ich, »Schönen Abend noch, Leute«, richtete meinen Sechsmonatsbauch auf die Hintertür aus und folgte ihm nach draußen.
»Wohin soll ich fahren?«, fragte ich J. J., als ich Mackies Wagen anließ. Mein Bauch stieß an das Lenkrad, und ich musste den Fahrersitz nach hinten verschieben.
»Du hasst mich, stimmt’s?«
»Ich hasse dich. Und wohin soll ich jetzt fahren?«
»Es ist eine psychiatrische Klinik«, sagte er und nannte mir den Namen: die Rancho-Verde-Klinik. Er las mir eine Wegbeschreibung vor, wobei er die Straßennamen aussprach, als handele es sich um eine Fremdsprache. »Nimm den Interstate 10? An Brookshire vorbei? Und dann in nörd licher Richtung auf etwas, das sich FM 2260 nennt? An einer verrosteten Brücke vorbei? Hier steht, wenn man an der Dairy Queen vorbeikommt, ist man zu weit gefahren.«
Also machte ich mich auf den Weg zum I-10. Brookshire war außerhalb der Stadt. Es würde eine Weile dauern, so weit rauszufahren. Reichlich Zeit für Kid Dy-no-mite, mich aufzuklären.
»Die Tittenmaus kommt aus Houston?«, fragte ich.
»Du musst aufhören, sie so zu nennen.«
»Tut mir leid.«
»Wie kannst du nicht wissen, dass sie aus Houston kommt? Das ist so ziemlich das Erste, was sie mir erzählt hat. Hast du dich denn gar nicht mit ihr unterhalten?«
»Nein.« Nein, ich hatte mich nicht mit ihr unterhalten. Ich ignorierte sie, wie alle anderen es auch getan hatten. Abgesehen von den Fotografen und den Leuten aus der Garderobe und der Maske – und außerdem, allem An schein nach, J. J.
»Wieso hast du dich denn mit ihr unterhalten?«, meinte ich. »Du hast doch noch nicht einmal an der Kampagne mitgearbeitet.«
J. J. sagte nichts.
»Ich hasse dich«, rief ich ihm ins Gedächtnis.
»Tja«, sagte er. »Was soll ich sagen? Sie war wunderhübsch.«
»J. J., sie ist fünfzehn!«
»Sie ist neunzehn.«
»Du hast mit ihr geschlafen?«
Keine Antwort.
»Hat sie deshalb einen Selbstmordversuch begangen?«
Keine Antwort.
»J. J., bitte sag mir, dass dieses Mädchen sich nicht wegen dir das Leben nehmen wollte.«
»Es lag nicht nur an mir«, sagte er nach einer Weile.
Es waren einige Dinge zusammengekommen. Und dann hatte sich alles aufgestaut, wie schlimme Dinge es eben so tun. J. J. hatte, wie mittlerweile offensichtlich war, während unserer Titten-Shoots eine Affäre mit ihr und ließ das Ganze noch ein paar Monate danach weiterlaufen.
»Was ist mit deiner Frau und ihrem Picknickkorb?«, fragte ich.
»Ziehen wir meine Frau nicht in die Sache mit rein«, sagte J. J., als wäre ich diejenige, die das getan hatte.
Die Affäre war ausgesprochen leidenschaftlich. An manchen Tagen konnte er nicht genug von Veronica bekommen. Doch an anderen nervte sie ihn. Sie stellte ihm ständig Mix- CD s ihrer Lieblingsmusik zusammen – Justin Timberlake, Jewel – und weinte dann, wenn er sie sich nicht anhörte. Sie simste ihm die ganze
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