Eine skandalöse Braut
Oder es hätte warten können, bis er das nächste Mal auftauchte.
Dem Impuls nachzugeben, ihr die Lilien zu senden, war gewagt gewesen, vermutete er. Andererseits bereute er diesen Schritt auch nicht. Solange es ihr nur gefiel …
Du lieber Gott, er dachte jetzt schon seit geraumer Zeit über sie nach und hörte den Ausführungen seines Vaters über die aktuellen Zollbestimmungen nur mit einem Ohr zu. Was sie wohl gerade isst, fragte er sich. Er spießte ein Stückchen Seezunge auf seine Gabel, die mit Kräutern gewürzt und in Butter perfekt sautiert worden war. Ob Amelia Süßigkeiten mochte? Das war ein Thema, das sie bisher noch nicht vertieft hatten, obwohl sie einander in der frühmorgendlichen Einsamkeit, die ihnen einige Freiheiten gestattete, immer besser kennenlernten. Sie sprachen über alles, von Kunst bis Architektur. Während ihres letzten Gesprächs hatte sie ihm detailliert die Raumaufteilung in Brookhaven beschrieben, dem Stammsitz der Earls of Hathaway. Er fühlte sich wie ein Schuft, weil er ihr diese vertraulichen Informationen entlockte. Aber er musste eben einen Weg finden, um den Grundriss des Anwesens herauszufinden.
»Alex?«
Er blickte auf und griff zugleich nach seinem Weinglas. »Ja?«
»Deine Großmutter hat dir gerade eine Frage gestellt.« Sein Vater, ein aufrechter und ernster Mann, runzelte die Stirn. Er saß an seinem angestammten Platz am Kopfende des Tischs und trug selbst zu diesem familiären Dinner einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd. Sein schwarzes Haar wurde von grauen Strähnen durchzogen, wodurch er noch strenger wirkte als sonst. Aber obwohl sein Vater sich stets so förmlich und distanziert gab, wusste Alex um die echte Zuneigung, die er für ihn wie für seine anderen Söhne empfand. Das war eine Wertschätzung, die Amelia bei ihrem eigenen Vater zu vermissen schien.
Sie saßen in dem prachtvollen Speisezimmer in Berkeley House. Die Türstürze waren im griechischen Stil verziert und von Säulen flankiert, die Decke spannte sich in einem hohen Bogen über den Köpfen. An einer Wand prangte ein Meisterwerk aus dem 16. Jahrhundert, das Alex an die Fresken erinnerte, die er einst in Italien bewundert hatte. Der riesige Tisch war aus Mahagoni, und überall brannten reichlich bestückte Kandelaber. Das exquisite Essen wurde auf silbernen Tabletts hereingetragen, und die Gläser waren zweifellos unbezahlbare Erbstücke.
Er fand diese Förmlichkeit immer erdrückend. Er dankte dem Schicksal oder jenen Mächten, die derlei kontrollierten, dass durch seine Position in der Erbfolge nur eine geringe Chance bestand, dass er je Duke wurde. Dafür war er dankbar.
»Ich bin heute Abend etwas in Gedanken versunken, verzeiht.« Alex wandte sich an seine Großmutter und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf, von dem er hoffte, es würde sie besänftigen.
»Das stimmt«, sagte sie. Sie wirkte beunruhigend gewitzt. »Du bist eindeutig abgelenkt. Darf ich fragen, was der Grund dafür ist, dass du dich in deinen eigenen Gedanken verlierst?«
Seine Großmutter und sein Vater blickten ihn erwartungsvoll an. Nicht zu vergessen die anderen Gäste. Sein Cousin Lord Snow und dessen extrem langweilige Frau, die kaum ein Wort sagte, blickten ihn ebenso an wie Alex’ Bruder Joel, der fünf Jahre älter als er und ein ehrenwerter Bischof der Kirche von England war. Aufgrund seiner Berufung zum Bischof war Joel den Mutmaßungen entkommen, dass er in Johns legendäre Fußstapfen trat. Stattdessen war dieses Erbe dann auf Alex übergegangen.
Am besten sagte er die Wahrheit. Nun, natürlich nicht die ganze Wahrheit. »Es ist eine Frau«, sagte Alex leise. »Ich bin sicher, das überrascht keinen von euch.«
Das war die richtige Taktik, denn es überraschte tatsächlich keinen der Anwesenden. Jeder wandte sich wieder dem Fischgericht zu, und bald wurden die nächsten Gänge serviert. Als sie beim Dessert anlangten, freute er sich schon, diesem Dinner zu entkommen. Doch ausgerechnet heute lud sein Vater ihn ein, den Portwein nach dem Essen mit ihm in seinem privaten Arbeitszimmer einzunehmen. Alex blieb keine andere Wahl, als die Einladung anzunehmen. Zu seiner Überraschung wurden Joel und sein Cousin nicht hinzugebeten
und blickten ihnen nur nach. Sie waren bestimmt neugierig, aber beide waren offensichtlich damit zufrieden, ihren Port anderswo einzunehmen. Man stritt sich nicht mit dem Duke of Berkeley.
Ein Augenblick wie dieser war gut geeignet, ihm eine Standpauke zu halten. Obwohl
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