Einklang der Herzen
Irland wäre ich um diese Uhrzeit noch lange nicht fertig.«
»Das muss ein schweres Leben gewesen sein, mein Mädchen.« Paddy runzelte nachdenklich die Stirn. Vielleicht war sie ja jetzt bereit, darüber zu sprechen.
Adelia seufzte erneut. »Schwer würde ich es nicht nennen, Onkel Paddy, aber als meine Eltern starben, wurde alles anders.«
»Arme kleine Dee. Du hast so viel verloren.«
»Ich dachte, mein Leben wäre zu Ende«, flüsterte sie. »Eine Zeit lang glaubte ich, selbst gestorben zu sein. Ich war wie taub, fühlte überhaupt nichts. Aber dann erinnerte ich mich wieder daran, wie sie gewesen waren. Es gibt niemanden, der mich mehr geliebt hat als meine Eltern. Ihre Liebe war so groß, so stark; selbst ein Kind konnte das sehen.«
Adelia und Paddy waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die Schritte auf der Treppe nicht hörten. Travis, der gerade im Begriff war, an der halb geöffneten Tür anzuklopfen, hielt mitten in der Bewegung inne, betrachtete das rührende Bild und lauschte Adelias Worten.
»Das Einzige, was mir von ihnen blieb, war die Farm. Die arme Tante Lettie! Sie hat so hart gearbeitet, und ich war ihr immer eine Last.« Sie lachte leise auf. »Sie konnte nicht verstehen, warum ich immer so schnell reiten musste. ›Eines Tages wirst du dir noch das Genick brechen‹, rief sie mir immer mit erhobener Faust hinterher. ›Und wer hilft mir beim Pflügen des Feldes, wenn du dir den Schädel einschlägst?‹ Und immer, wenn ich mal wieder einen Wutanfall bekam – und ich befürchte, das war oft der Fall –, hat sie sich bekreuzigt und für meine verlorene Seele gebetet.« Sie schloss die Augen. »Wir haben hart gearbeitet, aber es war einfach zu viel für eine Frau und ein halbwüchsiges Mädchen. Und wir hatten nicht genug Geld, um jemanden einzustellen. Weißt du, wie das ist, Onkel Paddy, wenn man genau weiß, was man eigentlich braucht, doch je mehr Zeit vergeht, desto weiter entfernt man sich davon? Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kann ich manchmal einen Tag nicht vom anderen unterscheiden. Und dann bekam Tante Lettie den Schlaganfall. Sie hasste es, den ganzen Tag nutzlos im Bett zu liegen.«
»Warum hast du mich nie wissen lassen, wie es euch ging?«, fragte Paddy. »Ich hätte euch geholfen. Ich hätte Geld schicken können – oder zurückkommen.«
Sie hob den Kopf und lächelte ihm zu. »Ich kann mir vorstellen, dass du das getan hättest, aber wozu? Um Geld zum Fenster hinauszuwerfen … oder um das Leben, das du für dich gewählt hast, wieder aufzugeben? Das wollte ich nicht, genauso wenig wie Tante Lettie. Und meine Eltern hätten es auch nicht gewollt. Jetzt ist die Farm für mich verloren, genauso wie meine Eltern und Irland. Aber ich habe dich, und mehr brauche ich nicht.«
Als sie in seinen Augen den Kummer und die Sorge entdeckte, wünschte sie mit einem Mal, geschwiegen zu haben. »Wie kommt es, Padrick Cunnane, dass so ein toller, gut aussehender Mann wie du niemals geheiratet hat?« Ihr Grinsen wurde breiter, ihre Augen sprühten Funken. »Es muss doch Dutzende von heiratswilligen Frauen gegeben haben. Hast du nie eine Frau geliebt?«
Er berührte ihre Wange. »Doch, mein Mädchen, das habe ich. Aber sie hat sich für deinen Vater entschieden.«
Adelias große grüne Augen musterten ihn mitfühlend. »Ach, Onkel Paddy!« Sie barg ihren Kopf an seiner Brust. Travis wandte sich langsam von der Tür ab und schlich die Treppe hinunter.
Am nächsten Morgen lag Frühling in der Luft, erzählte von blühenden Blumen und saftigen Blättern an den Bäumen. Adelias Leben war immer eng mit den Jahreszeiten verbunden gewesen, mit dem, was die Natur dem Menschen schenkte oder abverlangte.
Vom Balkon aus betrachtete sie das Land, das Travis gehörte. Es schien sich auszubreiten wie ein großer, ruhiger See. Grüne und braune Wellen erstreckten sich bis zu den Bergen. Ihr fiel auf, dass sie keine Ahnung hatte, was sich hinter den Bergen befand. Sie war noch immer eine Fremde in diesem Land. Seit sie in Amerika angekommen war, hatte sie nicht viel mehr zu sehen bekommen als das, was Travis Grant gehörte.
Ab und zu zwitscherte ein Vogel, doch davon abgesehen war es still. Hier gab es keinen Hahn, dessen Schrei den neuen Tag ankündigte, keine Felder, die umgegraben, keine Samen, die ausgestreut, kein Unkraut, das gejätet werden musste. Auf einmal verspürte sie ein so heftiges Heimweh, dass sie die Augen schließen musste.
So viel habe ich verloren, dachte sie,
Weitere Kostenlose Bücher