Elfenglanz
Kuppe eines Hügels. »Zum einzigen Ort, von dem ich mir noch Hilfe erhoffe.«
Chelsea nickte und sauste los. Pfeilschnell lief sie an der hinteren Mauer zu dem eingestürzten Torbogen, den sie schon einmal an diesem Tag passiert hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Laurel beobachtete sie kurz und machte sich dann ebenfalls auf den Weg.
Überlebte Tamani noch die nächste Stunde? Konnte sie es in dieser kurzen Zeit schaffen? Laurels Energiepegel war wirklich nicht mehr auf der Höhe, doch sie strengte sich an, schneller zu laufen. Das Atmen tat ihr schon weh, als sie die Mitte des Tals erreichte.
Noch einen Hügel, dann bin ich da. Bei der Vorstellung kamen ihr die Tränen und vor Erschöpfung wäre sie beinahe in die Knie gegangen. Die Nachtluft war kühl, doch ihre Beine brannten bei jedem Schritt.
Als sie die Hügelkuppe bezwungen hatte, gönnte sie sich eine kurze Pause, um Luft zu holen. Dann trat sie unter das ausladende Kronendach des Weltenbaums.
Sie war nicht mehr hier gewesen, seit Tamani sie vor anderthalb Jahren mitgenommen hatte. Im vergangenen Sommer hatte sie überlegt hinzugehen, weil sie damals nicht wusste, wo Tamani war und ob sie ihn je wiedersehen würde. Doch die Erinnerung an jenen Tag war zu stark gewesen und sie hatte es sich nicht zugetraut. Jetzt verbeugte sie sich ehrfürchtig, als die starke Aura des Baumes sie einhüllte.
Es war an der Zeit, ihre Frage zu stellen.
Tamani hatte sie gelehrt, dass der Baum aus Elfen bestand. Sein Vater hatte sich den sogenannten Schweigsamen vor nicht allzu langer Zeit angeschlossen. Alle Elfen hatten das Recht, ihre Weisheit anzufragen, wenn sie nur genügend Geduld bewiesen. Allerdings konnte es Stunden dauern, bis der Baum sich zu einer Antwort bequemte, manchmal sogar Tage – das hing vom Fragesteller ab.
So viel Zeit hatte Laurel nicht.
Sie dachte an den Tag zurück, als Tamani sich auf die Zunge gebissen und sie sofort danach geküsst hatte. Ihre Gefühle hatten sie überwältigt, ihr Verstand war von Ideen überflutet worden. Es war anders gelaufen, als erhofft, und statt etwas über Yukis Kräfte zu erfahren, hatte Laurel begriffen, was hinter Kleas Geheimnis steckte: Man konnte Elfen ebenso wie alle anderen Pflanzen für Zaubertränke gebrauchen. Doch Yeardley hatte sie gelehrt, dass sie mehr konnte, als nur Bestandteile zu ihrem Nutzen zu mixen. Wenn sie an ihren Kern heranreichte, konnte sie ihr gesamtes Potenzial abrufen.
Laurel, die in Gedanken bei Tamani war, bei den schwarzen Linien, die sich aus der Wunde wanden, und seinem Gesichtsausdruck, der ihr sagte, wie sehr er sich bereits mit dem Tod abgefunden hatte, nahm all ihren Mut zusammen, um das Sakrileg zu begehen. Sie ging zum Stamm des Weltenbaums, legte die Hand auf die raue Rinde und spürte das Leben darunter vibrieren, das durch den Baum schwirrte.
»Mir wird es viel mehr Schmerzen bereiten als euch«, murmelte sie kaum hörbar. »Es tut mir leid«, fügte sie noch hinzu. Dann stieß sie mit dem Messer in den Stamm des uralten, knorrigen Baums, bis ein wenig Grün zu sehen war. Doch obwohl der Pflanzensaft aus der verletzten Rinde perlte, war Laurel klar, dass das nicht reichte. Gebt ihr mir was, gebe ich euch was , dachte sie. Sie drückte mit der Messerspitze in ihre offene Hand und biss die Zähne zusammen.
Als der Pflanzensaft floss, presste sie die Wunde an das grüne Fleisch des Baumes.
Auf einmal fühlte sie sich, als stünde sie unter einer Lawine von Stimmen. Sekündlich prallten tausend Hagelkörner geflüsterten Wissens von ihrem Kopf ab, regneten auf ihre Schultern und drohten, sie in den Abgrund zu werfen und lebendig zu begraben. Laurel wankte unter dieser Last, doch sie hielt stand.
Während sie ihr Bewusstsein dem Baum unterordnete, verwandelte die Lawine sich in einen Wasserfall und dann in einen reißenden Strom, den sie in sich aufnahm und sanft durch ihren Kopf fließen ließ. Er blätterte sozusagen in ihrem Leben, in ihren Erinnerungen. Obwohl ihr diese Zudringlichkeit nicht gefiel, atmete sie gleichmäßig und konzentrierte sich auf ihre Fragen.
Wieder stellte sie sich Tamani vor und durchlebte in ihrer Erinnerung die Szene, die zu der Vergiftung geführt hatte. Sie holte Kleas Erklärung und die unmögliche Forderung, die sie an Laurel gerichtet hatte, aus dem Gedächtnis hervor. Gleichzeitig enthüllte sie dem Gedankenfluss Kleas letzte Drohung – dass das Gift ganz Avalon zerstören sollte, also auch den Weltenbaum.
Und wieder
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