Elfentausch
Verstohlen wischte er sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Er wollte Evelin unbedingt wieder haben. So suchte er ganz konzentriert hinter jedem Baum, immer darauf bedacht, die Eltern und Lutz nicht aus den Augen zu verlieren. Für alle Fälle hatte er ja auch ein Handy mitbekommen, damit er seine Eltern rufen konnte, wenn er verloren ginge. Aber er würde nicht verloren gehen. Er hatte sich vorgenommen, dass er derjenige sein würde, der seine Schwester wieder findet. Er würde der Held sein!
Als er sich wieder hinten einen Strauch bückte, hörte er plötzlich etwas laut rattern. Das hörte sich an wie seine Eisenbahn, nur lauter. Aber hinter einem Busch gab es ja wohl keine Eisenbahn. Oder doch? Als er genauer hinschaute, bemerkte er eine fette gelbe Raupe, die direkt vor seinem Schuh lag und er ging in die Hocke, um das merkwürdige Tier genauer anzuschauen. Dabei fiel im dann auf, dass es die Raupe war, die diese Geräusche von sich gab. Ohne es zu ahnen, hatte er eine seltene Ratter-Raupe gefunden. Ratter-Raupen sind harmlos, aber da sie sich nicht gegen Feinde wehren können, rattern sie laut, um dem Gegner Angst zu machen. So können sie friedlich vor sich hin existieren, ohne ernsthaft in Gefahr zu sein. Naja, das dachten jedenfalls die meisten Raupen. Aber viele Vögel waren schon hinter diesen Trick gekommen und verspeisten die dicken Raupen trotz noch so heftigen Ratterns. Diese Raupe hier wusste davon allerdings noch nichts und wir wollen es ihr auch nicht verraten. Sie hatte Axel näher kommen sehen, oder besser gesagt, sie hatte einen großen Fuß näher kommen sehen und sofort angefangen, heftig zu rattern. Da der Schuh aber sozusagen an einem Menschen befestigt war, den dieses Geräusch eher interessierte als abschreckte, hatte Rudi, so hieß die Raupe, ein Problem. Er konnte nur noch heftiger rattern und erschreckt beobachten, dass der Mensch vor ihm in die Hocke ging, um ihn genau zu begutachten. Rudi war nicht darüber informiert, ob Menschen Raupen essen, aber man konnte ja nie wissen. Also schimpfte er laut vor sich hin: »Hau ab, du Mensch. Lass mich in Ruhe oder ich muss dich verprügeln. Und ich schmecke auch sowieso gar nicht gut.« Doch es half wohl nichts. Axel ging mit seinem Gesicht näher an die lustige Raupe heran. »Hau ab!«, schrie Rudi so laut, wie er nur konnte, und bemerkte zufrieden, dass der große Menschenkopf sich erschreckt zurückzog. Zuversichtlich rasselte Rudi weiter.
Axel hatte sich wirklich erschreckt. Die rasselnde Raupe war ganz lustig, aber nicht wirklich zum Fürchten. Viel schlimmer war, dass er die Raupe reden gehört hatte – und er war zwar erst fünf aber nicht blöd. Raupen reden nicht! Um sich zu vergewissern, dass alles mit rechten Dingen zuging, näherte er sich der Raupe noch mal ganz vorsichtig. »Hast du gerade was gesagt?«, fragte er zögernd.
Jetzt war es an Rudi, sich zu Tode zu erschrecken. Der Mensch sprach zu ihm. Und nicht nur einfach so, wie Menschen zu netten Insekten sprechen, die sie gerade gefangen hatten, sondern so, als ob er ihn verstanden hätte. Und wenn das stimmte? Wie konnte sich Rudi mit einem Menschen unterhalten? Vor lauter Überraschung vergaß er, zu rattern. »Kannst du sprechen?«, fragte Axel wieder. Das war natürlich deutlich. Rudi war in Panik. Was sollte er machen? Der Mensch könnte ihn mit einem Tritt zerquetschen. Also musste er klug verhandeln. Er räusperte sich. »Ja. Natürlich kann ich reden und ich habe dich nur warnen wollen, damit du mir nicht in die Quere kommst oder mich eventuell aufisst.«
»Dich essen?«, sagte Axel. »Igitt. Ich esse doch keine Raupen«
»Was heißt hier igitt?«, empörte sich Rudi. »Soll das etwa heißen, dass du mich eklig findest? Soll ich dir mal sagen, wie ich dich finde?«
»Nun reg dich doch nicht auf. Aber Menschen essen keine Raupen, deshalb kommt mir deine Idee sonderbar vor. Ich hatte gar nicht die Absicht, dich zu essen. Ich fand dein Rattern so lustig und wollte dich nur genauer anschauen.«
Rudi war erleichtert. Menschen aßen also keine Raupen. Er war vorerst in Sicherheit.
»Es sind momentan viele Menschen im Wald unterwegs«, meinte Rudi. »Das ist ungewöhnlich und für uns kleine Tiere gefährlich. Was wollt ihr denn alle hier? Vielleicht kann ich euch helfen, damit ihr schneller wieder verschwindet.«
In Axel keimte die Hoffnung auf. »Wir suchen meine Schwester. Sie ist acht Jahre alt und blond und hat braune Augen und trägt eine
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