Elidar (German Edition)
späten Nachmittag ihre schmerzenden Füße aus. Das ungewohnt feste und warme Schuhwerk musste sie wohl erst einlaufen.
Sie war durch die ihr bekannten Gassen und Straßen des Viertels gelaufen und hatte sich dann auf den Weg zum Palatium gemacht. Der kleine Silberdrache, der kühl auf ihrer Brust ruhte, blieb still, und auch die Drachenkönigin in ihrem Inneren schien zu schlafen. Elidar genoss das weite Ausschreiten in ihrem herrschaftlich wehenden Mantel. Jeder, der ihr begegnete, erkannte sie als Magister, und das freute sie. Nicht alle Blicke zeugten von Respekt, viele waren furchtsam und einige hasserfüllt, aber alle, die ihr entgegenkamen, machten bereitwillig Platz.
Vor dem Tor, durch das sie gewöhnlich das Palatium betrat, machte sie Halt. Was wollte sie hier? Die Prinzessin würde sie schwerlich empfangen.
Der Türhüter erkannte sie und verbeugte sich. Elidar bat ihn, Sao-Tan zu suchen und ihm etwas von ihr auszurichten. Sie befühlte die magische Börse und ertastete wie gewünscht eine mittelgroße Münze, die sie in der Handfläche des Lakaien verschwinden ließ. Dann gab sie ihm ihre Botschaft: »Ich werde mit Rui nach Kayvan reisen, aber ich möchte mich vorher noch von ihrer Hoheit verabschieden. Du findest mich im Roten Stier.«
Leise pfeifend machte sie sich wieder auf den Rückweg, und weil sie schon seit einigen Equils nicht mehr unten am Fluss gewesen war, entschied sie, den Weg den Hügel hinab zu nehmen und von da aus über die Schafsbrücke zum Roten Stier zu gehen.
Das war allerdings ein größerer Umweg, als sie gedacht hatte, und deshalb saß sie nun in der Flussschänke und labte sich an einem Becher Most. Die Wirtin hatte sie furchtsam begrüßt und an den besten Tisch komplimentiert, von dem aus sie einen schönen Blick auf das ruhig vorbeifließende Wasser hatte. Die Schänke war schon recht voll, aber dennoch gesellte sich niemand zu ihr, was ihr durchaus angenehm war.
Gegen Abend kehrte sie zum Gasthaus, wo ein vortreffliches Abendessen auf ihrem Zimmer wartete.
Satt und zufrieden legte sie sich danach auf das Bett, das von unzähligen Gästen durchgelegen und entschieden zu weich war. Elidar dachte mit Bedauern an ihr schönes, hartes Lager im Ordenshaus zurück und suchte nach einer Position, die es ihr erlauben würde, einzuschlafen.
Der Mond näherte sich dem höchsten Punkt am Himmel, als sie es aufgab, den Schlaf herbeizwingen zu wollen. Elidar stand auf, trank einen Schluck Wasser aus dem Krug neben ihrem Bett und setzte sich auf den dreibeinigen Hocker am Fenster. Sie schlug eins der Bücher auf, die sie aus dem Ordenshaus hatte mitnehmen dürfen. Der volle Mond schien zwar durchs Fenster, aber es war dennoch zu dunkel im Zimmer, um ohne Licht zu lesen.
Sie sah sich nach einer Kerze oder einer Öllampe um, aber solchen Luxus hatte die karge Einrichtung des Zimmerchens nicht zu bieten. In ihrem Augenwinkel erhaschte sie einen Schimmer, der nicht vom Mondlicht stammte. Verwundert sah sie auf das Buch nieder, das sie in der Hand hielt. Es war nicht das »Vollständigliche Compendium der Ungemeyn Nützlichen und Hülfreichen Sprüchlein für den Eyffrigen Novizen«, wie sie geglaubt hatte, sondern ein ihr unbekanntes schmales Büchlein, dessen Einband im Mondlicht wie flüssiges Silber schimmerte.
Sie wendete und betastete das Büchlein mit vorsichtigen Fingern. Es wirkte so kostbar, dass sie Sorge hatte, es zu beflecken, und als sie es aufzuschlagen wagte, leuchteten die Seiten wie die allerteuerste gebleichte Seide aus Malandakay. Elidar ertappte sich dabei, dass sie den Atem anhielt. Wie mochte diese Kostbarkeit zwischen ihre Habseligkeiten geraten sein? Sie konnte sich nicht erinnern, in der Bibliothek des Ordenshauses dergleichen gesehen zu haben. Es gab dort einen wohl verschlossenen Schrank mit den bibliophilen Schätzen, die im Laufe der Zeit zusammengetragen worden waren, aber keins dieser Bücher glich dem, das sie jetzt in den Händen hielt.
Sie betrachtete die erste Seite. Feine, tiefschwarze Schriftzeichen bedeckten sie dicht an dicht, durch keinerlei schmückendes Beiwerk oder Illustration unterbrochen. Elidar hielt die Seite nah an die Augen, und jetzt erst bemerkte sie, dass es immer noch dunkel im Zimmer war, und alles Licht von der Seite selbst auszugehen schien.
Das Buch war ganz offenbar ein magisches Werk, und sie war umso neugieriger zu erfahren, welches Subjekt es behandelte. Sie betrachtete die erste Seite, aber der Text sträubte sich
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