Ellin
zugehörig. An diesem Abend saßen sie lange am Lagerfeuer beisammen und sprachen über das Kommende. Nuelia erzählte ihr von Huanaco und der Herrscherin Nosara, die ihrem Land nicht nur zu Ansehen und Macht verholfen hatte, sondern auch zu Wohlstand. Ellin freute sich darauf, eine neue Stadt zu sehen und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sie dort ein Zuhause finden würde. Kylian indessen wirkte nachdenklich und in sich gekehrt. Mehrmals ertappte sie ihn dabei, wie er sie beobachtete.
Während der Nacht wachten sie abwechselnd an Butans Krankenlager und verabreichten ihm in regelmäßigen Abständen einen schmerzlindernden Trank. Er bettelte nach dem Saft der Gaiabeeren, doch Ellin hielt es für zu gefährlich, ihm den giftigen Saft zu verabreichen. Geldis stimmte ihr zu.
Am Morgen fühlte Butan sich nach eigener Aussage besser und nahm sogar einen halben Gerstfladen und ein paar Apfelschnitze zu sich. Der Stumpf heilte weiterhin gut. Aufgrund seines hoffnungsvollen Zustands beschlossen Kylian und Nuelia, eine Trage zu bauen, damit sie ihren Weg fortsetzen konnten.
»Wir können nicht ewig hier bleiben«, entgegnete Kylian auf Ellins Protest. »Die Herrscherin von Huanaco wartet auf uns.«
Ellin stemmte die Arme in die Hüfte und funkelte ihn zornig an. Zum ersten Mal war es ihr egal, ob sie ihn erzürnte. Sollte er es wagen, sie zu bedrohen, würde sie ihn zwischen die Beine treten oder beißen, genau wie dieses seltsame Wesen. »Das ist unvernünftig. Sollte sein Zustand sich aus welchen Gründen auch immer verschlechtern, bestehe ich darauf, dass wir sofort anhalten.«
Kylian versprach es und setzte seine Arbeit fort.
Den restlichen Tag verbrachte Ellin mit dem Ausbessern ihrer Kleidung und dem Reinigen von Butans Verbänden. Sie wusch sie in einer Schale mit warmem Wasser, welches sie mit der milchigen Flüssigkeit versetzt hatte, bis die Spuren des Blutes und der Wundflüssigkeit fast herausgewaschen waren. Anschließend schwenkte sie die Tücher in Quellwasser, bis die Blutflecken nur noch als gelbliche Ränder zu erkennen waren.
Am folgenden Morgen erneuerte sie Butans Verband und warf einen zufriedenen Blick auf den Stumpf. Der Heilungsprozess verlief gut, sogar besser als erwartet. Da Butan einen an Aas erinnernden Geruch verströmte, bat sie Nuelia, ihn zu waschen und ihm frische Kleidung anzuziehen. Anschließend betteten sie ihn vorsichtig auf die Bahre, die sie am Sattel von Butans Wallach befestigt hatten. Ellin versuchte, den Armstumpf so aufzupolstern, dass die Unebenheiten des Bodens nicht allzu sehr auf ihn einwirken würden.
Aus Rücksicht auf Butans Zustand setzten sie ihre Reise in gemächlichem Tempo fort, was Ellin die Gelegenheit gab, über die vergangenen Ereignisse nachzudenken. Zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, warum Lord Wolfhard sie so vehement verfolgte. Kylian vermutete, dass es mehr war als die Rache dafür, dass sie nicht in sein Bett gekrochen war. Doch was hatte sie, was er so unbedingt wollte? Sie war nur eine Dienerin, frei geboren, doch arm. Vielleicht sollte sie Tilda besuchen, um sie nach Lord Wolfhards Motiven zu fragen. Irgendjemand musste ihr Auskunft geben können. Angestrengt versuchte sie, sich an Tildas Abschiedsworte zu erinnern. Die Mume war überaus besorgt gewesen und schien ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben. Hielt sie etwas vor Ellin verborgen?
Sie seufzte. Die Antwort auf ihre Fragen würde sie hier, weit weg von Zuhause, sicher nicht finden. Verstohlen betrachtete sie Kylian, der mit Geldis auf Jalo ritt. Er war unberechenbar, abweisend und fremd, doch er faszinierte sie. Seine Aura zeigte ihr, dass er weder ihr, noch irgendeinem anderen Lebewesen Böses wollte. Seine vermeintliche Härte war nur Schau, der Schutz vor einer Welt, die ihm alles genommen hatte. Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, von Kylian, wie er sich um Geldis kümmerte. Wie traurig und weich sein Gesicht wurde, wann immer er die alte Frau betrachtete. Wie er sich um Butan sorgte und das Wohl seiner Gefährten. Wie er die Soldaten hatte gehen lassen, obwohl er sie hätte töten können.
Er war nicht böse. Nicht einmal jähzornig. Aber warum hatte er sie gewürgt? Was war an ihr, dass ihn derart in Rage versetzte? So sehr sie auch grübelte, sie fand keine Antwort darauf. Als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte er sich plötzlich um und sah sie an. Sie wollte wegsehen, doch sie tat es nicht. Sie ließ es zu, dass ihre Blicke einander berührten, einen
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