Ellin
verrichteten sie ihre Arbeit, sammelten Feuerholz, füllten Wasser in die Trinkschläuche, wuschen sich und ihre Kleidung und bereiteten das Nachtmahl zu. Ellin verstand das Schweigen nicht, in ihren Augen war es ungesund, die Trauer zu unterdrücken und sie still in sich zu vergraben. In einem günstigen Moment fragte sie Geldis, die die erste Totenwache übernommen hatte, nach diesem absonderlichen Verhalten.
Geldis seufzte. »Für die Uthra gilt Schweigen als Zeichen des Respekts gegenüber dem Verstorbenen. Nichts soll die Gedanken der Trauernden von dem Toten ablenken.«
Ellin verstand und beschloss, sich dem Brauch der Uthra nicht zu verschließen. Während sie schwieg, dachte sie an ihre Heimat. In Veckta war es Tradition, dass die Hinterbliebenen zu einem üppigen Mahl luden, die Nacht durchzechten und sich selbst beglückwünschten, noch am Leben zu sein.
Als die Abenddämmerung hereinbrach, nahmen sie ein karges Mahl zu sich. Ellin übernahm die nächste Totenwache. Nach kurzer Zeit gesellte sich Nuelia zu ihr und setzte sich mit überkreuzten Beinen auf die andere Seite des Grabhügels. Ihre Hände flach auf den Knien liegend, schaukelte sie mit dem Oberkörper vor und zurück. Dabei bewegte sie die Lippen zu einem lautlosen Gebet. Ellin lehnte sich gegen die Steine und spielte mit einer Strähne ihres Haares, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. Sie dachte an all die Dinge, die in letzter Zeit geschehen waren. Ihre Flucht von der Felsenfestung, die Gefangennahme, die Kämpfe und Verletzungen und nicht zuletzt die Begegnung mit fremdartigen Wesen, von denen sie nie geglaubt hatte, dass sie existieren. Am überraschendsten jedoch war ihre schwindender Hass gegenüber einem Mann, den sie kaum kannte und der nicht einmal ein Mensch war. Das alles vereinte sich zu einer Flut widersprüchlicher Gefühle.
Irgendwann kam Kylian, um sie abzulösen. Sanft berührte er sie an der Schulter und setzte sich ihr gegenüber. Ellin hob den Kopf und sah ihn an. Der Feuerschein warf zuckende Schatten auf sein Gesicht. Unvermittelt griff er nach ihrer Hand. Sie versteifte sich. Was tat er da? Stirnrunzelnd betrachtete sie ihn. Alle Härte war aus seinem Gesicht gewichen. Traurig sah er aus, gebrochen, als trüge er die Last der Welt auf seinen Schultern. Zögerlich hob sie ihre Hand und berührte seine Wange. Tief sog er den Atem ein, atmete den Duft ihrer Haut. Dann, mit einem fast unhörbaren Seufzer löste sie sich von ihm. Der kostbare Moment war vorüber. Kylian senkte den Blick, nahm die gleiche Haltung ein wie seine Schwester und vertiefte sich in ein stilles Gebet.
Ein wenig benommen kehrte Ellin zu ihrer Schlafstatt zurück. Was machte sie nur? Warum tauschte sie Zärtlichkeiten mit Kylian aus? Das war nicht richtig.
Eine Weile lag sie wach und befürchtete, nicht schlafen zu können, zu verwirrend war die unerwartete Vertrautheit zwischen Kylian und ihr. Doch irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlummer, aus dem sie erst von dem Gezeter streitlustiger Schwarzkopfdohlen geweckt wurde.
Jesh hatte seinen Schlafplatz verlassen, Geldis und Kylian schliefen noch und Nuelia saß noch immer neben dem Grabhügel. Ihr Kopf war gegen die Steine gesunken, die Augen geschlossen. Leise richtete Ellin sich auf, schlich hinter einen Felsen und verrichtete ihre Notdurft. Anschließend hielt sie nach Jesh Ausschau, der mit einer Handvoll kleinen Eiern und einem mit Mirabeeren gefüllten Tuch zwischen den Felsen hervorkam.
Gerstfladen und Eier und zum Nachtisch saftige Mirabeeren. Ihr Mund wurde wässrig bei dem Gedanken an das bevorstehende Mahl. Wortlos löste sie die Pfanne vom Sattel und gab etwas Öl hinein. Anschließend legte sie frisches Feuerholz auf und briet die Gerstfladen, bis sie knusprig braun waren. Während sie die Eier in die Pfanne schlug, warf Jesh kleingeschnittene Kräuter hinein. Ellin bedankte sich mit einem Lächeln. Der aromatische Duft der gebratenen Eier weckten Kylian und Geldis, die sich schweigend um das Feuer versammelten. Nuelia nahm ihr Frühstück neben Butans Grab zu sich, doch sie aß nur wenig. Blass, mit dunklen Ringen unter den Augen saß sie da und starrte auf den Steinhaufen.
Nach dem Frühstück packten sie ihre Sachen zusammen und hielten bis zum Mittag gemeinsam Totenwache. Kylian beachtete Ellin nicht mehr und nicht weniger als zuvor und sie fragte sich, ob sie sich seine Zuneigung nur eingebildet hatte. Nichts deutete darauf hin, dass er etwas anderes in ihr sah, als eine
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