Ellorans Traum
weitersprechen, aber er erlöste mich.
»Mein Junge. Mein lieber Junge.« Er hielt mich fest und schloß ermattet die Augen. Ich saß die ganze Nacht neben seinem Bett und hielt seine schrecklich kalten Hände. Mein Gesicht schmerzte höllisch, und mir war entsetzlich elend zumute, aber ich spürte auch die Gegenwart meiner Schwester, ihre Hände auf meinen Schultern, und fühlte mich seltsam gestärkt.
Bei Morgengrauen erhob ich mich und wandte mich zur Tür. Ich rieb meine brennenden Augen und sah in das harte, unbarmherzige Gesicht meiner Großmutter.
»Was tust du hier«, flüsterte sie rauh. Ich drängte mich wortlos an ihr vorbei und öffnete die Tür. Sie packte mich an der Schulter und riß mich heftig herum.
»Was hast du hier zu suchen?« zischte sie in mein Ohr. Ich machte mich los und ging hinaus. Die Tür schlug zu. Ich stand frierend im Gang.
»Siehst du?« sagte meine Schwester und baumelte mit dem Beinen. Ich hockte mich neben sie in die Fensternische.
»Was meinst du mit ›siehst du‹?« fragte ich bitter. »Meine Großmutter haßt mich, und Karas – Karas ist mehr tot als lebendig. Und wahrscheinlich ist das auch noch meine Schuld. Er war völlig nüchtern! Völlig ...« Ich konnte nicht mehr weitersprechen.
Sie nahm mich in den Arm und antwortete ruhig: »Ich weiß.« Ich war allein. Ich legte meinen Kopf in die kalte Fensterbrüstung und wünschte mir nichts als den Tod.
Pünktlich wie jeden Morgen stand ich vor Karas' Tür. Ich richtete noch einmal meine Kleider und trat beherzt ein. Der Kammerherr lagerte auf seinem Diwan und balancierte eine Tasse seiner geliebten Schokolade auf seinem Bauch. Meine Großmutter war nirgends zu sehen. Ich blieb gehemmt in der Tür stehen und räusperte mich. Karas sah auf und blickte mich regungslos an. Ich erwiderte seinen starren Blick und verschränkte meine zitternden Finger auf dem Rücken.
»Habt – hast du Anweisungen f-für mich, Großvater?« fragte ich. Er regte sich nicht.
»Ich – dann gehe ich wohl b-besser«, stammelte ich und griff nach der Türklinke. Er hustete und stemmte sich höher. Die Tasse schwankte bedrohlich, und ich machte einen Satz, um sie noch zu erwischen. Er schnappte gleichzeitig danach, sie zerklirrte am Boden, und wir lagen uns in den Armen.
»Ich habe gestern nacht nicht geträumt?« fragte er kurzatmig. Ich schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, w-wirklich. Leonie hat mir d-den Kopf gewaschen ...« Ich biß mir auf die Zunge. Bei der Erwähnung ihres Namens glitt ein schmerzlicher Schatten über Karas' Gesicht. »G-Großmutter haßt mich«, setzte ich eilig hinzu. Karas strich über meinen Kopf.
»Nein, Elloran, nein. Sie liebt dich, so wie ich dich liebe. Du bist unser einziger – ach, verdammt! Du bist mein Enkel, aber ich würde dich auch lieben, wenn du irgendein Balg aus dem Arbeitshaus wärest!« Er zog mich an sich.
»Großvater?« sagte ich später. Ich wußte nicht, was mich ritt. »Großvater, ich habe eine Sch-Schwester, wußtest du das?« Er richtete sich steil auf und sah mich wütend an.
»Red kein dummes Zeug«, fauchte er. »Du bist kein – du hast keine Schwester. Du hast nie eine gehabt!« Sein Gesicht war rot angelaufen und wirkte so erregt, wie ich es noch nie erlebt hatte.
»Aber ich rede mit ihr!« beharrte ich. »Ich sehe sie, ich kann sie anfassen, sie hat mir ihr Taschentuch gegeben ...« Ich verstummte. Karas sah aus, als würde er gleich vom Schlagfluß niedergestreckt. »Bitte, reg dich n-nicht so auf«, beschwor ich ihn. »Vielleicht bin ich ja auch nur übergesch-schnappt.« Das schien ihn allerdings nicht im mindesten zu beruhigen. Diesen Augenblick suchte sich Veelora aus, um hereinzukommen.
»Du!« fauchte sie. »Was habe ich dir gesagt? Mach gefälligst, daß du ...«
»Halt den Mund, Vee!« sagte Karas leise. Sein Gesicht war immer noch rot gefleckt, aber er atmete ruhig. »Wir haben uns ausgesprochen. Es ist alles in Ordnung, meine Liebste.«
Ihr Gesicht wurde weich. Sie legte voller Zärtlichkeit ihre Wange an seine. Mir wurde klar, was ich bisher nicht wirklich begriffen hatte: Als sie sagte, daß Karas ihr der wichtigste, liebste Mensch auf der Welt war, hatte sie das genau so gemeint. Ohne jeden Abstrich. Ich fröstelte. Was bedeutete das für die einsame junge Frau, die die Krone war? Der Kammerherr hatte zu Leonie gesagt, daß er sie lieber heute als morgen los wäre. Ihre linke Hand war ihrem eigenen Volk verpflichtet, und ihre rechte Hand – nun, die
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