E.M. Remarque
zwölf
Jahre alt, mit Augen, die achtzig Jahre alt waren, war unter ihm in einem
zerschossenen Hotel Madrids gestorben – mit dem einzigen Wunsch, einmal ein
Kleid aus so weicher Wolle zu besitzen und zu vergessen, wie man ihre Mutter
vergewaltigt und ihren Vater zu Tode getrampelt hatte.
Er blickte sich um. Das Zimmer, ein paar Koffer, ein paar
Sachen, eine Handvoll zerlesener Bücher – ein Mann braucht wenige Dinge, um zu
leben. Es war gut, sich nicht an viele zu gewöhnen, wenn das Leben unruhig war.
Man hatte sie immer wieder zu verlassen, oder sie wurden genommen. Man mußte
jeden Tag aufbrechen können. Das war der Grund, weshalb er allein gelebt hatte;
wenn man unterwegs war, sollte man nichts haben, was einen festhalten konnte.
Nichts, was das Herz bewegte. Das Abenteuer – aber nicht mehr.
Er sah auf das Bett. Das verwühlte, blasse Leinen. Es
machte nichts, daß er wartete. Er hatte oft auf Frauen gewartet. Aber er
fühlte, daß er anders gewartet hatte – einfach, klar und brutal. Manchmal auch
mit der anonymen Zärtlichkeit, die die Begierde umsilberte – aber lange nicht
mehr so wie heute. Es war da etwas in ihn hineingeschlichen, auf das er nicht
geachtet hatte. Regte es sich da wieder? Bewegte es sich? Wie lange war das
her? Rief da nicht schon wieder etwas aus der Vergangenheit, aus blauen Tiefen;
wehte es nicht bereits wie ein Hauch von Wiesen, voll von Pfefferminz, eine
Pappelreihe am Horizont, der Geruch von Wäldern im April? Er wollte es nicht
mehr. Er wollte es nicht besitzen. Er wollte nicht besessen werden.
Er war unterwegs.
Er stand auf und begann sich anzuziehen. Man mußte
unabhängig bleiben. Alles begann mit kleinen Abhängigkeiten. Man achtete nicht
darauf – und plötzlich hing man im Netz der Gewohnheit. Gewohnheit, für die es
viele Namen gab – Liebe war eine davon. Man sollte sich an nichts gewöhnen.
Nicht einmal an einen Körper.
Er schloß die Tür nicht ab. Wenn Joan Madou kam, würde
sie ihn nicht finden. Sie konnte bleiben, wenn sie wollte. Er überlegte eine
Sekunde, ob er einen Zettel hinterlassen sollte. Aber er wollte nicht lügen,
und er wollte ihr auch nicht sagen, wohin er ging.
Er kam gegen acht Uhr morgens zurück. Er war durch die
kalte Laternenfrühe gegangen und hatte sich klar und entspannt gefühlt. Aber
als er vor dem Hotel stand, spürte er die Spannung wieder.
Joan war nicht da. Ravic erklärte sich, daß er nichts
anderes erwartet hatte. Aber das Zimmer erschien ihm leerer als sonst. Er sah
sich um und suchte nach einem Zeichen, ob sie dagewesen sei. Er fand nichts.
Er klingelte dem Mädchen. Sie kam nach einer Weile. »Ich
möchte Frühstück haben«, sagte er.
Sie sah ihn an. Sie sagte nichts. Er wollte sie auch
nichts fragen. »Kaffee und Croissants, Eve.«
»Sehr wohl, Herr Ravic.«
Er sah das Bett an. Wenn Joan gekommen war, konnte man
nicht gut erwarten, daß sie sich in ein zerwühltes, leeres Bett legte.
Sonderbar, wie tot alles wurde, was mit dem Körper zu tun hatte, wenn es nicht
mehr seine Wärme hatte – ein Bett, Wäsche, sogar ein Bad. Es wurde abstoßend,
wenn es die Wärme verlor.
Er zündete sich eine Zigarette an. Sie konnte angenommen
haben, er wäre zu einem Patienten gerufen worden. Aber dann hätte er einen
Zettel hinterlassen können. Er fand sich plötzlich idiotisch. Er hatte
unabhängig sein wollen und war nur rücksichtslos gewesen. Rücksichtslos und
albern wie ein Achtzehnjähriger, der sich selbst etwas beweisen will. Es war
mehr Abhängigkeit darin, als wenn er gewartet hätte.
Das Mädchen brachte das Frühstück. »Soll ich das Bett
machen?« fragte es.
»Warum jetzt?«
»Wenn Sie noch schlafen wollen. Es schläft sich besser in
einem frischen Bett.«
Sie sah ihn ausdruckslos an.
»War jemand hier?«
Weitere Kostenlose Bücher