Emmas Story
…
Fehlanzeige.
Um kurz vor acht bin ich ein derart runtergekommenes, nervliches Wrack, dass ich zum letzten aller Mittel zu greifen bereit bin: das Handy!
Ich hasse es eigentlich, Leute auf dem Handy anzurufen. Schließlich weißt du nie, wobei du diesen Menschen gerade störst. Vielleicht lässt du sein mobiles Telefon mitten in einer langen Kassenschlange bei Aldi bimmeln oder beim Bestellen in der Dönerbude oder beim Friseur oder in der Arztpraxis.
Es kommt mir immer so unangebracht vor, mitten in das Leben eines Menschen hinein zu klingeln und meine persönlichen Belange vorzutragen, während Dauerwellen gelegt, Salami abgewogen oder Schuhe anprobiert werden.
Aber hier handelt es sich ja quasi um einen Notfall. Schlimm genug, dass ich zwei Tage habe verstreichen lassen.
Wenn ich noch länger warte, wird Lu mir wahrscheinlich überhaupt nie wieder verzeihen und dann …
Ich halte einen Moment inne, während ich in der einen Hand das Telefon, in der anderen Hand den Zettel mit der Handynummer balanciere.
Was wäre, wenn Lu mir überhaupt nie wieder verzeihen würde?
Was wäre so schlimm daran?
Schließlich habe ich sie siebzehn Jahre lang nicht vermisst.
Anfangs dachte ich natürlich noch oft, später dann hin und wieder an sie. Aber in der letzten Zeit? Nein, ich habe nicht das Gefühl gehabt, dass meinem Leben etwas Entscheidendes fehlt.
Ist es nicht vielmehr so, dass ich Lus Kritik an meinem Duckmäusertum mit einer kläglichen Entschuldigung noch rechtfertigen würde?
Die Hand mit dem Zettel sinkt ein wenig tiefer.
Wahrscheinlich ist es so.
Höchstwahrscheinlich wird Lu es also ziemlich Banane und völlig unangebracht finden, wenn ich sie jetzt anrufe wie die Feuerwehr, um sie in so einer Lappalie – wie sie sehr wahrscheinlich meinen wird – um Absolution zu bitten.
Damit hätte ich sie voll und ganz bestätigt. Dass ich nämlich ständig und überall und mit allen Lieb-Kind sein will. Dass ich es einfach nicht ertrage, wenn jemand böse mit mir ist.
Vielleicht wird Lu es sogar gleich zur Sprache bringen. So nach dem Motto: ›Das war ja zu erwarten, dass du nach ein paar Tagen angekrochen kommst, um dich wortreich zu entschuldigen!‹
Ehrlich gesagt möchte ich ihr diesen Triumph gar nicht gönnen.
Hin und her gerissen starre ich auf das Telefon.
Es ist schon fast acht.
Verdammt. Ich werde mir doch von einer dahergelaufenen brasilianischen Göre nicht erzählen lassen, bei wem und wofür ich mich zu entschuldigen oder nicht zu entschuldigen habe!
Entschlossen tippe ich die Zahlenfolge ein und lausche angespannt auf das Tuten im Hörer.
»Ja?«, meldet Lu sich nach einer – subjektiv empfunden – viel zu langen Zeit.
»Hi, Lu. Hier ist Emma.«
»Oh, hallo …« Meine ich das nur oder klingt sie überrascht?
»Du brauchst gar nicht so zu tun. Wahrscheinlich hast du dir schon gedacht, dass ich anrufen werde«, sage ich laut und deutlich.
»Äh … wieso?«, macht Lu.
»Na, weil du doch genau das gemeint hast, oder? Dass ich die Dinge nicht auf sich beruhen lassen kann, wenn die Gefahr besteht, dass ich in einem schlechten Licht dastehe. Das hast du doch genau so gemeint, oder?«
Lu räuspert sich. »Ehrlich gesagt, weiß ich jetzt gerade nicht, wovon du sprichst. Aber vielleicht können wir ja später noch einmal telefonieren? Ich bin nämlich gerade unterwegs, weißt du … ich steh hier vorm Kino.«
Ach du Schreck! Und das passiert mir! Wie kann eine, die sich immer so viele Gedanken über die Schwierigkeiten beim Telefonieren mit dem Handy macht, so blöd sein und vergessen, danach zu fragen, ob es gerade passt?
»Oh … O. k., klar, natürlich.«
»Gut. Kann ich dir dann später zurückrufen?«
Dich. Aber egal! »Ja, ja, sicher. Wann wird das sein?«
»Ich weiß nicht … was meinst du, wann wir wieder zu Hause sein werden?«, fragt sie nicht mich, sondern ihre Begleitung.
Ich höre eine Stimme sagen: »Ach, der Film hat normale Länge. Und wenn wir dann noch was trinken gehen … Ich schätze mal so um zwölf.«
»Um zwölf ist zu spät, oder?«, fragt Lu nun mich.
Ich antworte nicht.
»Emma?«
»Ja.«
»Ist zwölf zu spät oder kann ich dann noch anrufen?«
»Zwölf geht noch. Ich bin sowieso lange auf«, sage ich lahm.
»Gut, bis später dann.«
Sie legt auf.
Ich starre vor mich hin.
Es ist unmöglich, das ich mich irre.
Ganz sicher irre ich mich nicht. Natürlich verzerrt das Handy eine Stimme ein wenig, aber ich bin mir ganz sicher: Es war Antonie,
Weitere Kostenlose Bücher