Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Nächstes: die Festplatte ausbauen. Dafür nötig: ein kleiner Schraubenzieher, rudimentäres Technikverständnis, geschickte Finger. Zur Not besaß Toby alles drei. Auf zur Entsorgung der Festplatte. Dafür brauchte er den Beefeater-Karton und zum Polstern die Kleenex-Tücher. Zum Empfänger bestimmte er seine geliebte Tante Ruby, eine Anwältin, die in Derbyshire unter ihrem Ehenamen praktizierte und darum nach Tobys Einschätzung außer Konkurrenz lief. Ein kurzer Begleitbrief – mehr würde Ruby nicht erwarten – beauftragte sie, beiliegende Sendung mit ihrem Leben zu verteidigen, Erklärung folgt.
Den Karton zukleben, mit Rubys Anschrift versehen.
Als Nächstes adressierte er, im Vorgriff auf jenen schwarzen Tag, von dem er hoffte, dass er nie heraufdämmern möge, zwei der wattierten Umschläge an sich selbst, postlagernd in der Hauptpost von Liverpool respektive Edinburgh. Kurze Vision eines flüchtenden Toby Bell, der keuchend an den Schalter der Hauptpost von Edinburgh gestürzt kam, auf seinen Fersen die Mächte der Finsternis.
Blieb noch der dritte, der originale, der unversendete Stick. Bei seinen Sicherheitsschulungen hatte es jedes Mal auch Versteckspiele gegeben:
Also, meine Damen und Herren, Sie haben dieses extrem geheime und kompromittierende Dokument in der Hand, und vor Ihrer Tür steht die Geheimpolizei. Ihnen bleiben exakt neunzig Sekunden ab JETZT , bevor Ihre Wohnung auf den Kopf gestellt wird.
Tabu war alles, was einem spontan einfiel: also NICHT hinter den Spülkasten damit, NICHT unter das lose Dielenbrett, NICHT in den Kronleuchter, das Tiefkühlfach oder den Verbandskasten, und BLOSS NICHT eine Schnur darum binden und aus dem Küchenfenster hängen. Wohin aber dann mit dem Corpus delicti? Antwort: an den naheliegendsten Platz, der sich nur denken ließ, zu seinen naheliegendsten Gefährten. In der untersten Schublade der Kommode, in die Toby seinen unsortierten Krempel aus Beirut gestopft hatte, lagerten derzeit CD s, Familienfotos, Briefe von Exfreundinnen und – ja, auch eine Handvoll von USB -Sticks mit handbeschrifteten Etiketten. Einer sprang ihm ins Auge: UNI - ABSCHLUSSPARTY BRISTOL . Er zog das Etikett ab, wickelte es um den dritten USB -Stick und warf ihn in die Schublade zu dem restlichen Plunder.
Danach ging er mit Kits Brief zur Spüle und zündete ihn an, zerstieß die Asche und spülte sie in den Ausguss. Zur Sicherheit ließ er den Durchschlag des Vertrags für sein Mietauto von Bodmin Parkway gleich folgen.
Zufrieden mit seinen bisherigen Fortschritten, duschte er, zog sich frische Sachen an, steckte die beiden Handys in die Tasche, packte die Umschläge und das Päckchen in die Tragetüte, winkte, wie von der Sicherheitsabteilung so nachdrücklich empfohlen, nicht das erste sich bietende Taxi und auch nicht das zweite, sondern das dritte herbei und nannte dem Fahrer die Adresse eines Minimarkts in Swiss Cottage, von dem er wusste, dass der Postschalter dort bis zum Ladenschluss Sendungen annahm.
Und von Swiss Cottage aus nahm er ein neues Taxi zur Euston Station, wo er in ein weiteres umstieg, das ihn ins East End brachte.
***
Das Krankenhaus ragte aus der Dunkelheit auf wie der Rumpf eines Schlachtschiffs, die Fenster lodernd, Brücken und Treppen klar zum Gefecht. Den oberen Vorplatz dominierte eine Parkfläche mit einer Stahlskulptur von ineinander verschlungenen Schwänen. Auf dem unteren verluden Sanitäter in rote Decken gehüllte Unfallopfer aus den Krankenwägen auf Bahren, während bekittelte Krankenhausmitarbeiter zigarettenrauchend im Kreis standen. Angesichts der Videokameras, die von jedem Dach, jedem Laternenpfahl auf ihn herabstarrten, versuchte sich Toby in einem möglichst patientenartigen Schlurfen.
Er folgte den Bahren in eine grell erleuchtete Vorhalle, die offenbar als eine Art Sammelplatz diente. Auf einer Bank saßen mehrere verschleierte Frauen, auf einer anderen beugten sich drei steinalte Männer mit Scheitelkäppchen über ihre Gebetsperlen. Gleich daneben betete eine Gruppe chassidischer Juden im Stehen.
Ein Tresen verhieß Auskunft & Beratung, aber es saß niemand dahinter. Ein Hinweisschild wies den Weg zum Beschwerdemanagement, zur Arbeitssicherheit, zur Station für Sexualmedizin und zur Kinderambulanz, schwieg sich ansonsten aber aus. Eine Tafel befahl: STOPP ! SIND SIE EIN NOTPATIENT ? Doch auch wenn man einer war, gab es niemanden, der einem sagte, wohin. Er entschied sich für den grellsten, breitesten Korridor und
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