Engel im Schacht
nicht, wenn man dann auf Notwehr plädieren will.« »Aber es ist in Ordnung, daß er sie verprügelt, wenn sie hellwach ist?« fragte ich mit bitterer Stimme.
Er packte meine Hand fester. »Du weißt, daß ich das nicht so meine, Vic. Bitte, leg mir so etwas nicht in den Mund ... Hawkings hat mir erzählt, daß sein Schwager Tamars Schwester ermordet hat, als sie aus dem Gefängnis entlassen wurde. Tamar hatte daraufhin einen Nervenzusammenbruch und hat Leon als gewalttätig beschimpft. Danach ist sie in ein Frauenhaus. Aber dort blieb sie nicht lange; sie war wieder eine Woche daheim und dann hat sie sich mit den Kindern aus dem Staub gemacht.« Ich zog ihm meine Hand weg und legte sie auf meine Stirn. Wessen Geschichte sollte ich nun glauben - die des Mannes oder die der Frau? Die von Finchley oder meine Version? Emilys Sicht der Dinge oder Fabians - immer vorausgesetzt, daß sich die Geschichten der beiden überhaupt unterschieden. »Willst du dich hinter der Hand verstecken?« erkundigte sich Conrad.
Ich versuchte ein Lächeln und hob den Kopf. »Also denkt Finchley, daß Tamar Hawkings nicht ganz richtig im Kopf ist und Deirdre vielleicht nur deshalb umgebracht hat, weil Deirdre die Stirn gerunzelt hat, wenn sie eigentlich hätte lächeln sollen? Oder umgekehrt?«
»Wir würden uns gern mal mit ihr unterhalten. Und mit Emily Messenger. Die beiden sind die einzigen, von denen wir mit einiger Sicherheit wissen, daß sie sich am Freitagabend in der Nähe des Tatorts aufgehalten haben.«
»Ich würde mich auch gern mit ihnen unterhalten, aber vielleicht würde ich andere Fragen stellen ... Wie viele Leute sitzen wohl in Joliet wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen haben ? Einer? Fünf? Fünfhundert?«
»Alle, wenn du sie selber fragst«, antwortete Conrad. »Worauf willst du hinaus? Darauf, daß wir manchmal den Falschen erwischen? Stimmt. Mir gefällt das auch nicht, aber ich tue nicht so, als gäbe es das Problem nicht.«
»Wir richten Menschen hin, sogar Teenager. Selbst solche, von denen wir nicht hundertprozentig wissen, ob sie das Verbrechen wirklich begangen haben. Vielleicht können sie nicht mehr in Berufung gehen, oder ihre Beweise lassen sich bei der Berufung nicht verwenden. Wir wissen, daß das geschieht. Wenn ich also von Beweisen höre, möglicherweise sogar Beweise finde, die ich der Polizei übergebe, so brauche ich doch noch einiges mehr. Es geht nicht nur um die Geschichte, sondern auch um den Kontext. Nur so läßt sich entscheiden, ob eine Version der Geschichte... ich sage nicht, >wahr< ist, sondern in sich schlüssiger oder authentischer. Ich habe Angst, daß Terry sozusagen den Schläger nimmt und ihn auf Emily niedersausen läßt, weil der Staatsanwalt ihm Druck macht.«
Conrad betrachtete seinen Steinbutt, der nun kalt und zerfallen war, mit gerunzelter Stirn und schob ihn weg. Nach einem Blick auf mich, um festzustellen, ob er mein Futterangebot akzeptieren durfte, leerte er den Teller mit Calamari, den ich ihm hingeschoben hatte, und senkte seine Gabel dann quer über den Tisch in meine Nudeln. Das war als Geste der Versöhnung gedacht.
»Warum, glaubst du, ist sie weggelaufen?« wollte er wissen. »Hältst du es denn für völlig ausgeschlossen, daß sie ihre Mutter umgebracht und jetzt Schuldgefühle hat?« »Ich halte nichts für unmöglich. Aber das, was ich glaube, und das, was ich akzeptieren kann, sind zwei Paar Stiefel. Kannst du dir denn nicht vorstellen, daß sie sowieso schon viel zuviel in sich reinfressen mußte und ihr Vater sie dann auch noch gezwungen hat, ihm ein Alibi zu verschaffen? Ich könnte mir denken, daß sie das genauso aus der Fassung gebracht haben könnte, wie wenn sie ihre Mutter selbst umgebracht hätte.«
Conrad hüstelte, ein Zeichen dafür, daß er angesichts der Situation nicht gerade glücklich war, und begann, ein Brötchen zu zerrupfen. Schon huschte der Kellner heran.
»Alles z u Ihrer Zufriedenheit, Sir?«
»Der Fisch war nicht besonders gut«, antwortete Conrad. »Erinnert mich an das verkochte Zeug, das ich gekriegt hab', als ich im Krankenhaus war, weil mir jemand ein Messer in den Bauch gerammt hatte.«
Der Kellner blinzelte, genau wie ich: Normalerweise ließ sich Conrad durch Essen, das ihm nicht schmeckte, nicht aus der Ruhe bringen. Der Kellner bot an, ihm kostenlos ein anderes Hauptgericht zu servieren.
Wieder hüstelte Conrad. »Ich hätte gern einen Apple Pie. Mit Eis. Und erzählen Sie mir ja nicht, wieviel Fett
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