Engelsfluch
ruhen, dann werden die Engel auch die Menschen in Frieden lassen!«
»Welche Engel?«
»Die Geflügelten.«
Allmählich begann ich zu begreifen. Ich dachte an die etruskischen Kunstwerke, an die häufigen Abbildungen engelsähnlicher Wesen, obwohl zu einer Zeit entstanden, als der biblische Engelsglaube hierzulande noch unbekannt war. Die Dorfbewohner mussten irgendwann auf Überreste dieser Kunstwerke gestoßen sein, und seitdem war die verschüttete Stadt für sie so etwas wie ein Heiligtum, ein Hort der Engel, die man nicht stören durfte.
»Es sind keine Engel«, versuchte ich zu erklären. »Die Abbildungen der Etrusker ähneln rein zufällig denen, die Sie aus der Kirche kennen.«
»Was wissen Sie schon«, knurrte Cavara und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Ohne uns noch einmal anzusehen, sagte er: »Gehen Sie, verlassen Sie diese Berge so schnell wie möglich! Oder das Unglück wird uns alle treffen.«
»Wir werden erst gehen, wenn unsere Arbeit erledigt ist.
Wenn uns niemand hilft, wird es sehr lange dauern.«
»Keiner aus Borgo San Pietro wird Ihnen helfen!«
Enttäuscht machten wir uns auf den Weg zurück ins Lager, und ich sagte zu Riccardo: »Wie es aussieht, werden wir eine lange Zeit hier zubringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, wir brauchen Hilfe.«
»Aber wer soll uns helfen?«
»Die Bewohner anderer Dörfer, für die ein guter Arbeitslohn mehr bedeutet als eine verschüttete Stadt. Mit Ihrer Erlaubnis, Signore, werde ich heute noch aufbrechen, um Arbeiter anzuwerben. Sie müssen mir nur etwas Geld mitgeben, damit ich das Interesse der Menschen wecken kann. Und Sie müssen versprechen, während meiner Abwesenheit gut auf Maria aufzupassen.«
Das versprach ich mit Freuden, ahnte ich doch nicht, dass ich mein Versprechen sehr bald würde brechen müssen.
Am zweiten Tag nach Riccardos Abschied brach das Verhängnis herein, ein Gewitter aus heiterem Himmel, dessen Blitze tödliches Blei spuckten. Ich war mit der Hälfte der Soldaten damit beschäftigt, den unterirdischen Gang voranzutreiben, als wir laute Schreie und das Krachen von Schüssen hörten. Der Lärm kam aus der Richtung des Lagers, wo sich Hauptmann Lenoir mit der anderen Hälfte der Männer aufhielt und wo Maria damit beschäftigt war, das Mittagsmahl zuzubereiten. Wie erstarrt hielten wir in der Arbeit inne, um zu lauschen. Ich kletterte als Erster nach oben und rief den Männern zu, mir zu folgen.
»Aber wir haben unsere Musketen im Lager gelassen«, erwiderte ein Sergeant. »Hier haben wir bloß unsere Spaten.«
»Na und?«, fragte ich nur und lief los, ohne mich weiter um den Sergeanten und seine Kameraden zu kümmern. Die Angst um Maria trieb mich voran. Als es hinter mir im Buschwerk raschelte, wusste ich, dass die Soldaten mir folgten.
Vor uns tauchten die Zelte und Unterstände des Lagers auf, und ich sah reglose Gestalten, allesamt Lenoirs Leute, auf dem Boden liegen. Andere Männer, Unbekannte in Zivil, richteten ihre Musketen auf uns. Augenblicklich ließ ich mich ins Gras fallen und legte schützend meine Arme über den Kopf. Dem Knattern der Schüsse folgten die Schreie der Getroffenen, und hinter mir hörte ich die Franzosen, die ohne ihre Waffen keine Chance hatten, zu Boden stürzen.
Weitere Schüsse peitschten durch die Luft, und dicht vor mir sah ich schmutzbefleckte Stiefel durch das Gras näher kommen.
Ich begriff, dass die Unbekannten jeden Soldaten töteten, in dem noch Leben war. Auch auf meinen Kopf war die Mündung einer Muskete gerichtet, und ein hageres Gesicht blickte mich mitleidlos an.
»Den nicht!«, ertönte da eine kratzige Stimme. »Er trägt keine Uniform. Das scheint der Archäologe zu sein.«
Die Mündung der Muskete bewegte sich von mir weg, und der Mann mit dem hageren Gesicht sagte: »Zu Befehl, Herr Major.«
Mir wurde bewusst, dass die beiden Männer Deutsch miteinander gesprochen hatten. Ein Deutsch, wie man es in Süddeutschland sprach oder in Österreich.
»Bringt den Mann ins Lager!«, befahl der Mann mit der kratzigen Stimme, der Major.
Zwei Männer zogen mich hoch. Zwischen all den Leichen entdeckte ich zu meiner Verwunderung Riccardo. Er hockte neben dem Lagerfeuer und hielt Maria in seinen Armen. Tränen liefen über sein Gesicht. Marias Augen waren geschlossen, und auf ihrem Kleid breitete sich über ihrer Brust Blut aus.
Als Riccardo mich erblickte, sagte er mit zitternder Stimme.
»Maria … sie hatte Recht mit dem Unheilsvogel …«
»Ist sie …« Auch
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