Engelsfluch
ich habe keine andere Erklärung.«
»Den Mann hätte ich gern kennen gelernt. Bei dem würde ich sofort einen Erste-Hilfe-Kurs buchen. Seltsam, dass er so sang-und klanglos verschwunden ist.«
»Alles, was ich heute erlebt habe, ist seltsam.« Enrico seufzte.
»Um diesen Mann mache ich mir die wenigsten Gedanken.«
Sie musterte ihn eingehend und sagte dann: »Es war ein harter Tag für Sie, man sieht es Ihnen an. Sie sollten sich jetzt ins Bett legen und schlafen. Hier können Sie zurzeit nichts weiter tun.«
»Aber Elena!«
»Ihr Zustand ist nicht erheiternd, aber stabil. In dieser Nacht wird sich daran nichts ändern. Außerdem wissen wir, in welchem Hotel Sie wohnen. Wir werden Sie sofort benachrichtigen, wenn es etwas Neues gibt. Versprochen!«
Enrico sah ein, dass er schlecht die ganze Nacht hier auf dem Krankenhausflur verbringen konnte. Also verabschiedete er sich von Dr. Addessi und verließ das Hospital. Vor dem Gebäude blieb er stehen, schloss die Augen und atmete die kühle Nachtluft ein. Es war ein milder Spätsommerabend gewesen, und er wünschte sich, er hätte ihn mit Elena zusammen genießen können, an einem Tisch vor einer Bar in Pescia. Als er spürte, wie ein Gefühl unendlicher Traurigkeit ihn zu übermannen drohte, gab er sich einen Ruck und stieg in den Fiat. Die kurze Strecke zum Hotel »San Lorenzo« führte auf dem rechten Flussufer an zahlreichen großen, dunklen Gebäudekomplexen vorbei: Papierfabriken und Gerbereien, die sich wegen des Flusses hier angesiedelt hatten. Die Fabriken blieben hinter ihm zurück, und die Straße führte allmählich hinauf ins Gebirge.
Nach einer Kurve bog er nach rechts ab, wo eine schmale Brücke über den Fluss zum Hotelparkplatz führte. Als er aus dem Wagen stieg, erinnerten ihn die Düfte, die aus dem zum Hotel gehörenden Kellerrestaurant nach oben stiegen, daran, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sein Magen war leer, aber er verspürte nicht den geringsten Appetit.
Erschöpft ging er auf sein Zimmer, aber er fand keinen Schlaf. Diesmal war es nicht die Angst vor seinem Alptraum, die ihn wach hielt, sondern die Sorge um Elena. Je stärker er sich darauf konzentrierte, nicht an sie zu denken, desto mehr rückte sie in das Zentrum seiner Überlegungen. Schließlich griff er, um sich abzulenken, nach dem alten Reisetagebuch und vertiefte sich erneut in die Lektüre.
Das Reisebuch des Fabius Lorenz Schreiber verfasst
anlässlich seiner denkwürdigen Reise nach Oberitalien im
Jahre 1805
Zweites Kapitel – Lucca
Obgleich ich inmitten der Toten stand, um mich herum Pfützen aus Blut, konnte ich nur schwer begreifen, was sich zugetragen hatte. Eben noch war ich der Gefangene von Riccardo Baldanellos Bande gewesen, attackiert von dem aufgebrachten Banditen Rinaldo, und jetzt waren alle mit Ausnahme von Riccardo und seiner Schwester tot. Wie hatten die Soldaten das Lager stürmen können, ohne dass der am Eingang der Schlucht aufgestellte Wachtposten sie bemerkte?
Vermutlich hatte mein Zweikampf mit Rinaldo den Wächter abgelenkt, der jetzt wie ein umgestürzter Kartoffelsack mitten auf dem Weg lag. Ich hegte wenig Zweifel, dass Hauptmann Lenoirs Männer auch ihn getötet hatten. Mein Mitleid mit den Toten hielt sich allerdings in Grenzen, wenn ich daran dachte, wie die Banditen mit dem Kutscher Peppo umgesprungen waren.
Ich wandte mich an den Hauptmann, der neben mir stand und seinen Männern Anweisungen erteilte. » Mon capitaine , wie haben Sie so schnell von meiner Notlage erfahren? Und, vor allen Dingen, wie konnten Sie das Versteck der Banditen aufspüren?«
Lenoir strich lächelnd über seinen sorgfältig gestutzten Kinnbart. »Als Ihre Kutsche nicht zum erwarteten Zeitpunkt in Lucca eintraf, wurden sofort Suchtrupps losgeschickt. Mehrere Kompanien haben nach Ihnen gesucht, Monsieur. Wir kannten zum Glück die Route Ihrer Kutsche, und so fiel es uns nicht schwer, den Ort des Überfalls auszumachen. Der Rest war sorgfältiges Suchen und ein wenig Glück. Dieses Versteck ist zweifelsohne gut gewählt, aber ich habe ein Auge für gut gewählte Verstecke. Und wie es aussieht, bin ich gerade im rechten Augenblick gekommen.« Bei den letzten Worten wanderte sein Blick zu Rinaldos Leichnam.
»Er war der Anführer dieser Bande«, log ich. »Ich habe ihn wohl zu sehr gereizt, aber es machte mich wütend, hier wie ein Tier gefangen zu sein.«
Ich erhob Rinaldo postum zum Banditenführer, um Riccardo von jedem Verdacht
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