Engelsfuerst
die Fakten dargelegt«, erwiderte Spadone ruhig. »Für Gruselgeschichten bin ich
nicht zuständig.«
Papst Lucius mischte sich in beschwichtigendem
Ton ein: »Nicht alle überlieferten Fälle von Selbstverbrennung müssen sich tatsächlich ereignet haben.
Aber selbst wenn man einen gewissen Prozentsatz als
übertrieben oder erfunden streicht, bleiben doch etliche Fälle übrig, die sich nicht wegdiskutieren lassen.
Sie müssen, denke ich, durchaus nicht auf ein und dieselbe Ursache zurückgehen. Vielleicht ist dem Menschen die Fähigkeit zur Selbstverbrennung immanent,
und es gibt dafür verschiedene Auslöser, vielleicht
auch externe, dann wäre es im engeren Sinne keine
Selbstentzündung.«
»Nein«, pflichtete Spadone bei. »Dann wäre es
Mord.«
»Also wären innerhalb von drei Wochen zwei
hochrangige Kleriker ermordet worden, die beide mit
den Finanzen des Vatikans zu tun hatten«, zog Alexander das Resümee. »Damit hätten wir einen Berührungspunkt bei den Opfern, aber nicht beim Vorgehen der Täter. Eine Verbrennung und ein Schlag auf
den Schädel sind doch sehr unterschiedliche Arten, einen Menschen umzubringen.«
»Im Fall von Kardinal Mandume muß es kein Mord
gewesen sein«, schränkte Spadone ein. »Ehrlich gesagt
erschien mir diese Möglichkeit eher abwegig – bis ich
vom Tod Picardis hörte. Das Geschehen der vergangenen Nacht könnte ein ganz neues Licht auf den Fall
Mandume werfen.«
»Könnte, ja«, sagte Alexander nachdenklich. »Unterstellen wir also einen Zusammenhang, dann haben
wir die Vatikanfinanzen als Berührungspunkt. Aber
wenn ich mich recht entsinne, ist die Präfektur für die
wirtschaftlichen Angelegenheiten gar nicht für die Vatikanbank zuständig. Hat der Vatikan das IOR nicht
als eigenständiges und vor allem unabhängiges Institut
organisiert?«
»Das war bis vor kurzem der Fall, ja«, antwortete
Papst Lucius. »Leider ist die Vatikanbank in der Vergangenheit immer wieder in die Kritik geraten; da war
von angeblichen Mafiakontakten bis hin zu Spekulationsgeschäften die Rede. Deshalb haben mein Amtsbruder Custos und ich uns kürzlich entschlossen, die
Kontrollfunktion der Präfektur auch auf das IOR
auszuweiten.«
»Was heißt das, vor kurzem?«
»Vor ziemlich genau einem Monat.«
»Und eine Woche später war Mandume tot, das ist
wirklich interessant«, überlegte Alexander laut. »An
welchen Transaktionen waren sowohl Mandume als
auch Picardi beteiligt?«
»Das sollte man am besten Kardinal Scheffler fragen«, sagte Lucius. »Schließlich leitet er die Vatikanbank.«
Alexander hob abwehrend die Hände. »Halt, das
geht mir alles etwas zu schnell. Ich weiß gar nicht, in
welcher Funktion ich hier bin. Als Vatikanjournalist?
Als ehemaliger Schweizergardist? Oder als was sonst?«
»Als unsere Vertrauensperson, Alexander«, sagte
Custos. »Sie haben der Kirche mehr als einmal aus einer bedrohlichen Situation geholfen. Und Sie haben
ein gewisses persönliches Interesse daran, die Sache
aufzuklären. Deshalb bitten wir Sie und Dirigente
Donati, mit Generalinspektor Spadone zusammenzuarbeiten.«
»Donati?«
Luu nickte. »Wir haben ihn gebeten herzukommen.
Er ist bereits auf dem Weg.«
»Hätten Sie mir das am Telefon gesagt, hätte ich ihn
gleich mitgebracht. Jetzt kann Signor Spadone seinen
hübschen Vortrag über Selbstverbrennung gleich noch
einmal halten.«
Fast hätte Alexander gesagt, seinen unglaublichen Vortrag, aber er riß sich gerade noch am Riemen.
Wenn die beiden Päpste, Don Luu und der Sicherheitschef des Vatikans die Geschichte ernst nahmen,
stand es ihm kaum zu, sich darüber lustig zu machen.
Außerdem thronte vor ihm auf dem Tisch die silberne
Urne mit dem, was von Kardinal Mandume übriggeblieben war: nur ein Häufchen Asche.
10
San Gervasio
L
assen Sie sich fallen, Enrico. Das Hier und Jetzt
zählt nicht mehr. Sie gehen zweitausend Jahre
zurück in die Vergangenheit, zur Zeit des Bundesgenossenkriegs. Die Stadt, in der Sie leben, ist in Aufruhr. Viele wollen sich dem Aufstand gegen Rom anschließen, andere rufen dazu auf, den Frieden unter
allen Umständen zu wahren. Sehen Sie die aufgebrachte Menge, Enrico, hören Sie die Schreie?«
Die Stimme des Abts, die seit vielleicht zwanzig
Minuten im immer gleichen ruhigen und doch eindringlichen Ton auf ihn einredete, drang nur noch
fern und gedämpft an Enricos Ohren, wie durch Watte. Er vergaß das Kloster San Gervasio und die Zelle,
in der er mit geschlossenen Augen auf der
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