Engelsfuerst
Schicksal zu erfahren. Dann aber hatte
er sich besonnen. Schon die erste Rückführung hatte
ihn sehr mitgenommen. Außerdem konnte es gut sein,
daß ihm das, was die Vergangenheit für ihn bereithielt,
gar nicht gefiel.
»Enrico?«
Er hatte Francescos Frage noch nicht beantwortet.
»Das Gespräch mit Vater Tommasio war sehr aufschlußreich und hat einige meiner Fragen beantwortet. Leider hat es auch eine Menge neuer aufgeworfen.«
Francesco musterte ihn. »Ich verstehe dich nicht,
aber eins sehe ich ganz deutlich: Im Vergleich zu heute morgen siehst du kein bißchen erleichtert aus.«
»Ich sagte ja, es sind eine Menge neue Fragen aufgetaucht.«
»Wenn es dir hilft, laß uns darüber sprechen«, bot
Francesco an. »Vielleicht kann ich dir helfen, Antworten auf deine Fragen zu finden.«
»Ich fürchte, das kannst du nicht, aber ich bin
dankbar für dein Angebot. Auch Vater Tommasio
wird mir letztlich nicht helfen können. Es gibt wohl
nur einen, der das kann.«
»Wer ist dieser Mann?«
»Mein Vater.«
»Ah.« Francesco wirkte erstaunt. »Dein Vater lebt
also noch.«
»Wieso sollte er nicht?«
»Ich weiß auch nicht. Irgendwie hatte ich dich immer für eine Waise gehalten.« Leise fügte Francesco
hinzu: »Ich bin eine.«
»Meine Mutter ist tot, aber mein Vater lebt. Ich
denke, ich werde zu ihm fahren, gleich morgen.«
Francescos Miene verdüsterte sich. »Du willst uns
verlassen? Du … bist der erste richtige Freund, den
ich habe.«
»Wir werden uns wiedersehen, Francesco. Mein
Gefühl sagt mir, daß ich zurückkehren werde. Es gibt
hier in San Gervasio nämlich vieles, das auf mich wartet, und zwar seit mindestens zweitausend Jahren.«
Der junge Mönch schüttelte bedächtig den Kopf.
»Ich verstehe nicht alles, was du sagst, aber ich hoffe
von ganzem Herzen, daß du zurückkommst! Mußt du
weit reisen?«
»Nach Rom.«
»Dann bist du bei deinem Vater gewesen, als wir
uns in Rom kennengelernt haben?«
»Sagen wir, mein Vater und ich haben uns in derselben Stadt aufgehalten. Wir hatten uns zu dem Zeitpunkt aber schon eine ganze Weile nicht gesehen.«
»Wieder etwas, das ich nicht verstehe. Wenn ich einen Vater hätte, noch dazu einen, der in derselben
Stadt lebt wie ich, würde ich versuchen, ihn so oft wie
möglich zu sehen, ich würde bei ihm sein und mit ihm
sprechen wollen.«
»Bei meinem Vater ist das nicht so einfach, Francesco.«
»Wieso nicht?«
»Auch das wirst du nicht verstehen. Mein Vater ist
in gewisser Hinsicht der Vater vieler Menschen, die
mit ihm sprechen möchten. Da bleibt für den eigenen
Sohn nicht viel Zeit.«
»Der Vater vieler Menschen?« wiederholte Francesco. »Ungefähr so wie Vater Tommasio?«
»Das ist ein guter Vergleich, wirklich.«
Francesco erhob sich. »Wenn du morgen schon reisen willst, solltest du jetzt schlafen. Ich hoffe, wir haben noch etwas Zeit miteinander, bevor du uns verläßt.«
»Die werden wir haben«, versprach Enrico und
wünschte Francesco eine gute Nacht.
Der Gang war lang und der Kerzendocht klein. Die
im Luftzug tanzende Flamme entriß nur einen kleinen
Teil des Korridors der Finsternis. Vorsichtig setzte er
einen Fuß vor den anderen, ganz darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen und kein Geräusch zu machen.
Er fürchtete sich vor Vater Tommasio. Der Abt
achtete streng auf die Einhaltung der Nachtruhe, die
andauerte, bis die Brüder von San Gervasio sich eine
Stunde nach Mitternacht zur ersten Morgenandacht in
der Kapelle versammelten. Er atmete auf, als das Ende
des Gangs und damit auch die Tür zu seiner Schlafzelle in Sicht kamen.
Vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, schob er die
Tür auf, gerade weit genug, um in die Zelle zu gelangen. Genauso sorgsam, mit angehaltenem Atem und
klopfendem Herzen, schloß er die Tür wieder. Als das
erledigt war, drehte er sich erleichtert um und wollte
den Kerzenstummel auf das niedrige Schränkchen
stellen, das Tisch und Aufbewahrungsort für seine
wenigen Habseligkeiten zugleich war.
Mitten in der Bewegung erstarrte er. Sein Blick fiel
auf eine schemenhafte Gestalt, die sich vor dem blassen Mondlicht, das durch das winzige Fenster hereinfiel, kaum abhob. Still und aufrecht stand sie vor ihm.
Wie eine Statue.
Zitternd hob er die Hand mit dem Kerzenstummel.
Der Lichtschein fiel auf die einfache Kutte eines
Mönchs, auf ein kleines Holzkruzifx, das an einer Lederschnur um den Hals des Mannes hing, und endlich
auf dessen Gesicht. Ein erfahrenes, vom Leben gezeichnetes Gesicht mit grauen
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