Engelsfuerst
sah ihm die Anspannung an.
Am liebsten hätte der Heilige Vater sofort nach dem
Kranken gesehen.
Der Abt, der das wohl auch erkannte, wandte sich
an die Männer in den schlichten Kutten. »Laßt den
Heiligen Vater jetzt in Ruhe, meine Brüder, er hat es
eilig!« Dann wandte er sich an Lucius. »Soll ich Sie zu
Enrico bringen, Eure Heiligkeit?«
Der Papst nickte, und Leutnant Klameth sagte:
»Kübler bleibt hier draußen, Hofer und ich begleiten
den Heiligen Vater.«
Kübler war über diese Aufteilung nicht erfreut. Es
regnete, und ein schneidender Wind fegte über die
Bergkuppe. Während der Papst mit den Kameraden
und den Mönchen im Hauptgebäude verschwand,
blickte Kübler sich um. Fünfzehn Meter vor ihm stand
ein baufällig wirkender Schuppen mit einem Vordach,
das nicht mehr ganz vollständig war.
Aber einen besseren Schutz vor der Witterung
konnte er nirgends entdecken.
Also lief er hinüber und stellte sich mit dem Rücken
möglichst dicht an die geschlossene Tür. Sein Blick
fiel auf den Mercedes, der inmitten der alten Klostergebäude wie ein Fremdkörper wirkte.
Irgend etwas stimmt nicht, dachte Kübler, während
er den Geländewagen betrachtete. Aber was?
Abt Tommasio blieb kurz stehen und wies seine
Brüder an, den Gästen eine warme Speise zu bereiten. Dann ging er mit dem Papst und den beiden
Gardisten weiter. Sie bogen in einen langen Gang
ein, von dem ein weiterer Gang abzweigte. An dessen Ende lag das »Krankenzimmer«, wie der Abt es
nannte.
»Es ist natürlich keine richtige Krankenstation«,
fügte er hinzu. »Auf so etwas sind wir in unserer Abgeschiedenheit nicht eingerichtet. Aber es ist warm,
und es steht ein komfortables Bett darin.«
Damit öffnete er die Tür. In dem Bett lag ein bis
zum Hals zugedeckter Mann ausgestreckt auf dem
Rücken. Er atmete sehr flach. Ob er schlief oder die
Decke anstarrte, war von der Tür aus nicht zu erkennen. Ein junger Mann in legerer Kleidung saß an dem
Bett und blickte den Eintretenden entgegen. Als er
den Papst erkannte, sprang er auf, eilte ihm entgegen
und kniete vor ihm nieder.
»Das ist Dr. Francesco Avati«, erklärte Tommasio.
»Er hat sich nach Kräften um den Kranken bemüht,
aber in diesem Fall sind die Möglichkeiten der Schulmedizin wohl nicht ausreichend. Sollen wir Sie mit
Enrico allein lassen, Heiliger Vater?«
»Ich bitte darum, Vater Tommasio.«
Der junge Arzt schien beinahe froh, das Krankenzimmer verlassen zu können. Lucius fand das seltsam,
aber seine Gedanken waren so auf Enrico fixiert, daß
er nicht weiter darüber nachsann.
»Leutnant Klameth, würden Sie und Adjutant Hofer bitte draußen warten?« sagte er.
»Selbstverständlich, Eure Heiligkeit.«
Die beiden Gardisten stellten sich links und rechts
der Tür auf, die von Tommasio geschlossen wurde.
Lucius eilte zu dem Bett, zog die Decke zurück und
betrachtete seinen Sohn.
Enrico, der einen dunkelblauen Pyjama trug, hatte
die Augen geschlossen. Sein Brustkorb hob und senkte sich nur leicht. Bestürzt spürte Lucius die Schwäche
seines Sohnes; es war, als habe eine übergroße Anstrengung ihm die Lebensenergie ausgesaugt.
Jetzt war nicht die Zeit, über den Grund nachzudenken. Lucius kniete nieder und faltete die Hände zu
einem stummen Gebet.
Dann legte er die Hände auf Enricos Brust, schloß
die Augen und konzentrierte sich auf die heilenden
Kräfte, über die er als Nachfahre des Erzengels Uriel
verfügte. Vor seinem geistigen Auge sah er einen anderen Enrico: lebhaft, fröhlich, stark.
Das leichte Kribbeln setzte in den Fingerspitzen
ein, es breitete sich durch Hände und Arme in Lucius’
ganzem Körper aus, und wie ein Strom aus Wärme
und Leben floß die heilende Kraft in Enricos Leib.
Gardeadjutant Zarli Hofer räusperte sich vernehmlich. Leutnant Robert Klameth blickte sofort zu dem
baumlangen Kameraden hinüber. Seit gut zehn Minuten standen sie allein vor der geschlossenen Tür des
Krankenzimmers.
»Was ist, Hofer? Wird Ihnen langweilig?«
»Nein, Herr Leutnant. Es ist nur …«
»Was?«
»Das ist alles so ungewöhnlich. Was tut der Heilige
Vater nur da drin?«
»Er will einem Kranken helfen, soweit ich das verstanden habe.«
»Aber weshalb? Wer ist dieser Kranke, daß man
Papst Lucius an sein Bett holt? Hier, in diesem – Verzeihung – gottverlassenen Kloster?«
Klameth schüttelte den Kopf in gespielter Mißbilligung. »Das müssen Sie dem Gardekaplan beichten,
Hofer. Was Ihre Frage angeht – die stelle ich mir auch.
Aber
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