Engpass
Stecknadel im Heuhaufen. Hände, die darauf trainiert waren, Wichtiges einzukassieren. Manchmal sogar, ohne die benötigten schriftlichen Befugnisse von höchster Stelle vorweisen zu können. Irgendetwas, das dieser Frau, Aurelia Bramlitz, sozusagen posthum das Lächeln raubte und dem Mord an ihr eine Stimme gab. Dem war Elsa auf der Spur.
Sie hatte Glück, musste nicht lange suchen. Zuerst waren es belanglose Rechnungen, Bestellungen, ausgearbeitete Marketingstrategien, Steuerunterlagen, Anwaltskorrespondenz, Telefonlisten, die sie fand. Ein Gewirr ohne Ende.
Als ihr Blick, wenige Minuten später, an einem Schreiben hängen blieb, das einen Tag vor Aurelias Tod datiert war, stutzte sie. Gut lesbar hatte die erst vor Kurzem ermordete Ehefrau eines der mächtigsten Männer Oberbayerns Geschäftskorrespondenz mit Anong Bramlitz unterschrieben. Anong, nicht Aurelia, wie Götz seine Frau umbenannt hatte. Eingebürgert in Bayern und in sein Reich. Auf eine besonders schamlose Weise, wie Elsa fand.
Sie setzte sich. Eine automatisierte Geste in Momenten, in denen sie etwas registriert, worauf sie dennoch nicht vorbereitet ist.
Aurelia Bramlitz, die doppelt angegriffen wurde und deren Körper, zu allem Überfluss, auch noch in die Kälte einer Herbstnacht ausgesperrt worden war, hatte die Autorität ihres Namens zurückgefordert. Kurz bevor man ihr Gewalt angetan hatte. Elsa kam es wie das Paradoxon schlechthin vor. Der lautlose Schrei. Der ungenannte Name. Der Protest, den niemand hörte. Nur sie, sie hörte ihn. Überlaut. Deutlich. Jetzt, in diesem Moment. Zufrieden, weil Aurelia endlich aufbegehrt hatte. Wogegen, das wusste sie allerdings noch nicht.
Ein Fund von Bedeutung war ihr gelungen, das wusste Elsa. Ohne noch länger weiterzusuchen, trat sie aus dem Büro, ging, auch diesmal einem Phantom gleich, den Gang zurück, auf den Hinterausgang zu. Sie verließ den Bürotrakt der Brauerei, steuerte ihren Wagen an und stieg ein. Einen Moment verharrte sie hinter dem Lenkrad. Dann startete sie. Den Brief, den Aurelia mit Anong unterschrieben hatte, in der Sicherheit ihrer Jackentasche.
Zurück im Büro, hört Elsa Degenwald drüben telefonieren und dabei auf und ab gehen. Zu müde und kein bisschen motiviert, zu ihm hinüberzugehen, schnappt sie lediglich Gesprächsfetzen auf.
»… glaub mir, der war angestrengt bemüht, meine Bemerkungen auszublenden … ach was, sie in das Reich der Fantasie auszulagern … hatte wässrige Augen, wie sie nur jemand hat, der etwas zu verbergen sucht … und sein Blick, der konnte meinem kaum standhalten … den kriege ich dran, darauf würde ich meinen eigenen Namen verwetten …«
Elsa sitzt wie festgewachsen in ihrem Bürostuhl. Geschafft von den vorangegangenen Stunden. Kurz lässt sie ihren Blick davonirren. Hinter ihrem Fenster ist der Sommer damit beschäftigt, sich auf den September auszudehnen. Vorhin, während der Autofahrt hierher, hat sie im Radio gehört, dass der Altweibersommer kräftig anklopfe. So laut, dass man ihn keinesfalls überhören könne. Warme, ja man könne sogar von heißen Tagen sprechen, die bevorstünden. Die 30-Grad-Marke läge im Bereich des Vorstellbaren. Deren Überschreitung wäre in einigen Städten Deutschlands voraussagbar. Wo zuvor dicke Jacken, Regenschirme und Zähneklappern angesagt gewesen waren, dürfe man jetzt getrost an Badehose und Bikini denken. Seen, die noch badetaugliches Wasser zu bieten hätten, würden vermutlich am Wochenende gestürmt werden. Happy hours, Beachfeeling und Holidays stünden auf dem Programm. Der Radiomoderator hatte jeden vernünftigen Menschen dazu aufgefordert, sich dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen. Saharawinde mit passendem Feinstaub im Gepäck wären auch noch drin. Das Wetter spiele verrückt.
›Was soll’s, Leute. Macht mit! Verabschiedet den verfrühten Herbsteinbruch und begrüßt, mit mir, den Rest an Sommer, der uns längst zusteht. Der Mensch besticht dadurch, dass er ein anpassungsfähiges Tier ist. In dem Sinne: Amüsante Tage, viel Spaß und heiße Gefühle. Servus, Bayern!‹
Elsa holt sich zurück in die Arbeitswelt. Sie steht auf, öffnet das Fenster und lässt die unerwartet laue Luft hinein. Dann zieht sie ihre Jacke aus und holt Aurelias Brief aus der Tasche. Bedächtig legt sie ihn auf ihren Schreibtisch. Streicht das Papier glatt und starrt nur auf die Unterschrift, die für sie alles verändert.
Später fährt sie durch den frühen Abend
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