Erfrorene Rosen
finden.
Plötzlich dämmert ihm etwas. »Die Fälle haben tatsächlich etwas gemeinsam«, sagt er nachdenklich.
»Was denn?«, drängt Olli.
»In allen Berichten geht es um mehr oder weniger verfehlte Gerichtsurteile«, erläutert Tossavainen. »Genauer gesagt um relativ schwere Taten, für die eher milde Strafen verhängt wurden.«
»So läuft es doch immer«, bemerkt Olli sarkastisch.
»Tja … Hier ist ein gutes Beispiel, an den Fall erinnere ich mich noch. Irgendein Typ hat in einer Kneipe einem anderen die Kehle aufgeschnitten, von einem Ohr zum anderen. Das Opfer hätte keine Chance gehabt, wenn nicht zufällig eine Krankenschwester in dem Lokal gewesen wäre, die das Loch in der Halsschlagader mit den Fingern zugepresst hat, bis der Verletzte ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Täter wurde nur für schwere Körperverletzung bestraft, obwohl das Opfer ohne die Krankenschwester garantiert gestorben wäre.«
»Also nicht für versuchten Totschlag«, präzisiert Olli.
»Nein. Und hör dir das an«, fährt Tossavainen fort. »Da hat einer dem Opfer ein langes Filetiermesser in den Bauch gestoßen und ihn von unten nach oben aufgeschlitzt. Die Messerspitze hat das Herz nur um einen Zentimeter verfehlt.«
»Kein versuchter Totschlag?«
»Schwere Körperverletzung. Obwohl der Arzt die Wunden als lebensgefährlich eingestuft hat. Trotzdem war es nach Ansicht des Gerichts nur schwere Körperverletzung. Und dann das hier, das ist noch gar nicht lange her«, sagt Tossavainen und zeigt auf den nächsten Ausschnitt.
»Worum ging es da?«
»Einem 86-Jährigen blieb aufgrund seines Alters eine Verurteilung wegen Inzest und sexuellem Missbrauch einer Minderjährigen erspart. Er hatte seine damals dreizehnjährige Enkelin jahrelang mehrmals am Tag missbraucht. Das Gericht war der Ansicht, einem so alten Mann könne man keine Gefängnisstrafe zumuten, und hat ihn laufen lassen.«
»Dabei war er nicht zu alt, um sich mehrmals am Tag an dem Kind zu vergehen«, entrüstet sich Olli.
»Du sagst es. Und dann gibt es einige Berichte über Vergewaltigungen, bei denen der Täter aus dem einen oder anderen Grund mehr als glimpflich davonkam. Hier zum Beispiel heißt es, der Täter sei ein regelmäßig arbeitender Steuerzahler und habe Familie. Nach Ansicht des Gerichts hätte eine Haftstrafe ihm unzumutbar geschadet.« Tossavainen lacht kopfschüttelnd auf, wird aber im nächsten Moment ernst, fast finster. »Das Opfer dieser Vergewaltigung war eine wehrlose Behinderte«, sagt er dann. »Das Gericht hat sich offenbar ganz auf das Los des armen Täters konzentriert und die Qualen des Opfers übersehen. Stell dir das mal vor: eine behinderte Frau allein an einem dunklen Abend. Der Mann zerrt sie in den Wald, vergewaltigt sie und lässt sie da liegen.«
Tossavainen sieht Olli an, der sichtlich aufgebracht ist. Er empfindet die Urteile geradezu als Verrat an der Arbeit der Polizei. Auf Tossavainens Gesicht dagegen ist keine Enttäuschung zu lesen. Keine Resignation, keine Trauer, keine Wut. Er wirkt heiter, beinahe optimistisch. Das wundert Olli, und das Lächeln, das sich allmählich auf Tossavainens Gesicht ausbreitet, bringt ihn erst recht aus der Fassung.
»Das ist es«, verkündet Tossavainen selbstsicher.
»Das ist was?«
»Das Motiv. Wegen dieser Urteile macht er den ganzen Mist.«
In Ollis Kopf herrscht Kurzschluss, doch dann gehen sämtliche Lichter auf einmal an. Jetzt sieht er alles genauso deutlich wie Tossavainen. Obendrein bestätigt seine eigene Reaktion auf die Urteile Tossavainens Hypothese.
»Zum Donnerwetter, das könnte es tatsächlich sein!«, ruft er und widmet sich wieder der Mappe.
Sie haben beide das Gefühl, kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Jetzt müssen sie nur noch weiter überlegen, ein Gesamtbild entwickeln und dabei alle Fäden sorgsam festhalten, um nichts zu übersehen oder falsch zu deuten.
»Er protestiert«, sagt Tossavainen leise und lässt den Blick über die Zeitungsberichte schweifen. »Seine Taten sind Demonstrationen gegen die Gerichtsurteile.«
Auf diese Feststellung folgt ein langes Schweigen. Sie spüren beide, dass sie recht haben. Niemand wird sie davon abbringen.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragt Olli nach einer Weile zaghaft.
»Das Haus muss observiert werden«, sagt Tossavainen. »Außerdem lassen wir schleunigst die Technik anrücken und jeden Millimeter absuchen. Alles, was irgendwie wichtig erscheint, kommt zu uns aufs Revier.«
Tossavainen blickt noch
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