Erzaehlungen
Unmöglichkeit der Entdeckung zu verwischen. All dies war denkbar, ja, mehr als das, wahrscheinlich. Denn wie anders war die unfaßbare Lücke seines Gedächtnisses zu begreifen, die sich von jener abendlichen Scheidestunde bis zu seiner Abreise am nächsten Morgen erstreckte, als aus dem unbewußten und bisher wohlgeglückten Bemühen, das Ungeheure zu vergessen, dessen Erinnerung zu ertragen er nicht stark genug gewesen wäre.
Und plötzlich, mit stillstehendem Herzen, richtete er sich im Bett auf. Drängte sich ihm die Vermutung immer gebieterischer auf, daß Alberta von seiner Hand den Tod gefunden, so war sie vielleicht nicht die einzige gewesen, die dieses Schicksal erlitten hatte. Vor mehr als zehn Jahren war seine junge Frau völlig unerwartet dahingeschieden. Eines Morgens war er in ihr Schlafzimmer getreten, um vor dem Gang ins Amt ihr den gewohnten Kuß auf die Stirn zu drücken; da hatte er sie tot im Bett gefunden; und er erinnerte sich heute mit Grauen, daß er damals, im ersten Augenblick wenigstens, keine sonderliche Erschütterung, ja kaum ein heftiges Erstaunen verspürt hatte. Der Arzt hatte den Tod der jungen Frau wohl als ein an sich seltenes Vorkommnis, aber doch mit Rücksicht auf ihre für so junge Jahre nicht unerhebliche Üppigkeit und auf gewisse, von Zeit zu Zeit auftretende Herzbeschwerden keineswegs als rätselhaft hingenommen; und da im übrigen nicht der geringste Verdacht auf Selbstmord oder gar auf ein Verbrechen vorlag, so war der Leichnam ohne weitere Untersuchung ins Grab gesenkt worden.
Die Ehe hatte innerhalb ihrer ganzen dreijährigen Dauer durchaus als glücklich gegolten, und Robert hatte das liebevolle, sanfte, etwas bequeme Geschöpf stets, nicht nur vor den Leuten, sondern auch daheim, wenn nicht mit Zärtlichkeit, doch mit ritterlicher Galanterie behandelt. Nur er selbst wußte, wie schwer er von allem Anbeginn grade unter der Sanftmut und Gutherzigkeit seiner Frau gelitten hatte; wie ihre zuweilen törichten Bemerkungen, wie ihr Schweigen, wie ihre Art, mit gerundeten Lippen seine Küsse hinzunehmen und zu erwarten, wie schon die einfache Tatsache ihres Vorhandenseins ihn oft mit einer hilflosen, mühselig verhehlten, bösen Ungeduld erfüllt hatte. Doch das Schlimmste für ihn war ihr Klavierspiel gewesen. Ohne zureichende Begabung, aber mit der ihr eigenen Beharrlichkeit hatte sie die Gewohnheit ihrer Mädchenjahre beibehalten, täglich eine Stunde lang zu üben; und ihre Art, Mozartsche und Beethovensche Sonaten mit kindischen, dicken Fingern herunterzuspielen, hatte den Gatten, während er nach dem Abendessen rauchend und lesend im Nebenzimmer saß, manchmal in einen Zustand wahrer Verzweiflung versetzt. Wie oft, wenn aufflammende Begier nach anderen Frauen ihn zu neuen Abenteuern lockte, hatte er sich gegen den stillen Zwang, den Brigittens rührende Anhänglichkeit auf ihn ausübte, vergeblich aufgelehnt; mit welcher Inbrunst hatte er sich nach seinem pflichtenlosen Junggesellenleben zurückgesehnt, dessen holde Freiheit er einer zwar milden, aber unentrinnbaren Sklaverei aufgeopfert hatte. Und wenn diese Sehnsucht, diese Ungeduld so übermächtig in ihm angewachsen war, wie er sie heute, jetzt, in untrüglicher Erinnerung neu zu empfinden vermeinte, wo war der Beweis, daß Ungeduld und Sehnsucht nicht in irgendeinem Augenblick Wille, daß der Wille nicht endlich Tat geworden war? Wo der Beweis, daß Brigitte wirklich einem Herzschlag erlegen, daß sie nicht vielmehr an einem tückisch ihr eingegebenen Gift verschieden war? Wie er sich ein solches Gift verschafft, wie er es ihr beigebracht, ob er es ihr abends in einen Trank gemischt, ob er sie gezwungen hatte, es einzuschlürfen – von all dem konnte er sich freilich heute keine Rechenschaft mehr geben; aber da es sich nun einmal herausgestellt hatte, daß sein Dasein eine ganze Anzahl solcher völlig ins Dunkel der Vergessenheit gerückter Stunden in sich faßte, warum sollte er den Mord an Brigitten nicht ebenso verübt haben wie den an Alberta? – Den an Alberta –? Was hatte denn Alberta damit zu tun?
Er streckte die Hand nach der Lampe neben seinem Bett aus und schaltete ein. Ebenso rasch, wie sie ihn in der Finsternis überfallen, zerflatterten im hellgewordenen Raum die Schreckgedanken in nichts. Er atmete auf. Was für eine Tollheit, dachte er, mir einzubilden, daß ich Brigitte vergiftet habe. Das gute, sanfte, heute noch geliebte Geschöpf. Erzählte ich, dachte er weiter, meinem Freunde Leinbach
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