Es begann in einer Winternacht
„Glaubst du, du kannst das finden?“
„Wunderblumen?“
„Und das Moos.“
„Ich denke, das könnte ich, wenn ich genug Zeit hätte.“
„Ich glaube nicht, dass er noch viel Zeit hat“, sagte Evie, und ihre Stimme brach. Voller Angst, dass sie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren könnte, setzte sie sich in ihrem Stuhl auf und schüttelte Cams tröstende Berührung ab. „Nein … es geht mir gut. Nur … finde, was immer du glaubst, was helfen könnte.“
„Ich bin bald zurück“, hörte sie ihn leise sagen, und im nächsten Moment war er verschwunden.
Evie blieb im Zustand erschöpfter Unentschlossenheit am Bett sitzen. Ihr war klar, dass sie den Bedürfnissen ihres eigenen Körpers vermutlich einige Zugeständnisse machen sollte, etwas schlafen, etwas essen, sich zumindest ein wenig waschen … aber sie hatte zu viel Angst, Sebastian auch nur für ein paar Minuten allein zu lassen. Sie wollte nicht wiederkommen und feststellen müssen, dass er in ihrer Abwesenheit gegangen war.
Benommen versuchte sie, den Nebel der Erschöpfung zumindest lange genug zu durchdringen, um eine Entscheidung zu treffen, doch ihr Verstand schien nicht mehr richtig zu funktionieren. Zusammengesunken saß sie in ihrem Stuhl und starrte auf ihren sterbenden Ehemann. Ihr Geist und ihr Körper schienen ihr so schwer, dass keine Handlung und kein Gedanke mehr möglich waren. Sie bemerkte gar nicht, dass jemand das Zimmer betrat, so sehr konzentrierte sie sich auf das beinahe nicht mehr wahrnehmbare Auf und Ab von Sebastians Brust. Erst nach und nach wurde ihr bewusst, dass ein Mann neben ihrem Stuhl stand. Er strahlte eine Vitalität und beherrschte Kraft aus, die in der schlafwandlerischen Atmosphäre des Krankenzimmers erstaunlich war. Überrascht blickte sie hoch in das besorgte Gesicht von Lord Westcliff.
Ohne weitere Worte griff Westcliff nach ihr und zog sie auf die Füße, stützte sie, als sie taumelte. „Ich habe jemanden für Sie mitgebracht“, sagte er ruhig. Evies Blick irrte durch das Zimmer, bis sie es schaffte, ihren Besuch fester ins Auge zu fassen.
Es war Lillian Bowman – jetzt Lady Westcliff – elegant und strahlend in einem weinroten Kleid. Ihre helle Haut war leicht von der italienischen Sonne überhaucht, und ihr schwarzes Haar war in einem modischen, mit Perlen besetzten Seidennetz in ihrem Nacken gefangen. Lillian war groß und schlank, die Art mutige Frau, von der man sich vorstellen konnte, dass sie ihr eigenes Piratenschiff kommandieren könnte … eine Frau wie geschaffen für gefährliche und unkonventionelle Vorhaben. Wenn auch nicht auf so zarte Art schön wie Annabelle Hunt, war Lillian doch auffallend attraktiv mit klaren Gesichtszügen, die ihre amerikanische Herkunft verrieten, noch bevor man ihren ausgeprägten New Yorker Akzent gehört hatte.
Aus ihrem Kreis von Freundinnen war Lillian diejenige, der Evie sich am wenigsten verbunden fühlte. Lillian besaß nicht Annabelles mütterliche Sanftheit oder Daisys strahlenden Optimismus … sie hatte Evie mit ihrer scharfen Zunge und kaum beherrschten Ungeduld immer eingeschüchtert. Aber in Zeiten der Not konnte man auf Lillian zählen. Und nach einem Blick in Evies abgehärmtes Gesicht kam Lillian ohne Zögern auf sie zu und schloss sie in ihre Arme.
„Evie“, murmelte sie zärtlich, „in was bist du da nur hineingeschlittert?“
Die Überraschung und Erleichterung, so sicher von einer Freundin gehalten zu werden, die sie nicht erwartet hatte, überwältigte Evie. Sie konnte den Schmerz in ihren Augen und ihrer Kehle wachsen fühlen, bis sie ihr Schluchzen nicht länger zurückhalten konnte. Lillians Umarmimg wurde fester. „Du hättest mich sehen sollen, als Annabelle und Daisy mir erzählten, was du getan hast“, sagte sie und streichelte Evies Rücken. „Ich bin beinahe umgefallen, und dann habe ich St. Vincent auf alle erdenklichen Arten verflucht, weil er dich so benutzt hatte. Ich war versucht, herzukommen und ihn selbst zu erschießen. Aber es scheint, dass mir jemand anderes die Arbeit abgenommen hat.“
„Ich liebe ihn“, flüsterte Evie zwischen Schluchzern.
„Das ist unmöglich“, sagte Lillian ausdruckslos.
„Ja, ich liebe ihn, und ich werde ihn verlieren, genau wie meinen Vater. Ich kann es nicht ertragen … ich werde noch verrückt.“
Lillian seufzte und murmelte: „Nur du könntest so einen wertlosen, eitlen Pfau lieben, Evie. Oh, ich gebe zu, er hat durchaus seine Vorzüge … aber du
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