Es wird Dich rufen (German Edition)
wartete, dass Mike mit ihrer Hilfe das angefangene Kapitel fortsetzte.
»Beschreibe mich!«, rief ihm das Buch zu.
»Aber ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll?«, sagte Mike fast unhörbar.
Statt einer eindeutigen Antwort, wiederholte sich der Ruf: »Beschreibe mich!«
Nach kurzem Überlegen nahm Mike die Feder in die Hand und tauchte sie in das Tintenfass. Er versuchte zu schreiben, wie es seine tagtägliche Aufgabe als Redakteur war, doch er konnte es nicht. Etwas blockierte ihn.
»Es ist nicht immer einfach, das zu tun, was man eigentlich tun sollte«, tröstete ihn eine tiefe, mitfühlende Stimme.
Mike drehte sich um. Er wusste nicht, wer da plötzlich vor ihm stand, aber die Gestalt hatte eine starke Ähnlichkeit mit der Darstellung des Antonius in dem Gemälde von David Teniers.
Wieder überkam Mike das eigenartige Gefühl, diesem Mann im Laufe seines Lebens schon einmal begegnet zu sein, obwohl er sich noch immer bewusst war, dass er träumte.
»Der Weg, sich selbst zu finden, ist der schwerste, den das Leben für uns vorgesehen hat«, sagte der alte Mann ruhig. »Aber man kann ihn gehen.«
»Wer sind Sie?«, fragte Mike.
»Die Antwort auf diese Frage kennst du bereits«, sagte der Alte. Dann deutete er auf das Buch, vor dem Mike saß.
»Kannst du es verstehen?«
»Ich kann es lesen, aber ich begreife es nicht«, sagte Mike wahrheitsgemäß. Die Buchstaben verschwammen inzwischen vor seinen Augen, formten neue Worte und lösten sich alsbald wieder auf, um dann an anderer Stelle erneut zu erscheinen.
»Das ist das Buch deines Lebens«, sagte der Mann.
»Das Buch meines …?«, stockte Mike verwundert.
»Es ist dein Schicksal, das du selbst niederschreibst, dich zu leiten«, erklärte der Mann und legte seine Hand auf Mikes Schulter – wie ein Vater, der seinem Kind auf verständnisvolle Weise etwas begreiflich machen will.
»Lies es und du wirst wissen, was deine wahre Aufgabe ist!«
»Ich kann darin aber nichts erkennen!«, beklagte sich Mike. Je intensiver und je länger er das Buch studierte, umso übler wurde das Spiel, das die Zeilen mit ihm trieben. Sie veränderten ständig ihren Sinn. Nichts blieb, wie es war. Ein stetiger, unaufhörlicher Wandel.
»Du musst dich selbst erkennen!«, forderte der alte Mann Mike nachdrücklich auf.
»Aber wie soll ich das tun?«, fragte er irritiert. Der Wind war stärker geworden, immer dichter werdende Wolken versperrten der Sonne zunehmend ihren Weg. Mike begann zu frieren.
»Komm mit!«, forderte ihn der alte Mann auf. »Ich will dir etwas zeigen.«
Mike folgte ihm, fast schon in blindem Gehorsam. Doch als der Alte ihn in die schwarze Grotte hineinführen wollte, bekam er Angst vor der absoluten Dunkelheit, die darin herrschte. Ein ungutes Gefühl übermannte Mike bei dem Gedanken, was ihn in dieser Höhle erwarten mochte.
Instinktiv versuchte er aufzuwachen, doch irgendetwas hielt ihn noch an diesem Ort fest. Vielleicht war es sein eigener innerer Wille, dem bewusst war, dass er die Antworten auf all seine Fragen nur dann finden würde, wenn er sich dieser Situation stellte.
Vorsichtig tastete er sich in die Höhle hinein.
Der Fels war kalt und fühlte sich an wie eine Filmkulisse aus Pappmaschee, die jeden Moment nachgeben und über ihm zusammenbrechen konnte. Ein seltsam süßlicher Geruch lag in der Luft.
Der Weg war steinig und schwer zu gehen. Der spitze Fels schien sich in seine nackten Füße zu bohren.
Je tiefer er dem alten Mann in die Höhle folgte, desto schwerer fiel es Mike, dessen schwächer werdenden Umrisse zu erkennen. Es war ein beklemmendes Gefühl.
»Hab keine Angst!«, rief ihm der Alte immer wieder zu. »Vertraue!« Inzwischen war jedes Licht verschwunden, das ihm den richtigen Weg hätte weisen können. Mike musste sich auf sein Gehör verlassen, folgte den hallenden, schweren Schritten seines Begleiters. Es war die einzige Möglichkeit, sich zu orientieren.
»Wohin gehe ich?«, fragte Mike.
»Folge dir selbst!«, antwortete der Alte und wiederholte, »Hab keine Angst!«
Das sonore, ruhige Timbre seiner Stimme gab Mike in der Tat die Sicherheit, die er benötigte. Er spürte plötzlich, dass er dem Fremden blind vertrauen konnte – im wahrsten Sinne des Wortes.
Ohnehin hatte er keine Wahl – er konnte weder stehen bleiben noch fliehen, wollte er sich nicht augenblicklich im schwarzen Mantel der Dunkelheit verlieren.
Mikes Beine wurden schwerer. Wohin auch immer er unterwegs war, er konnte nur hoffen,
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