Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
erwartet hätte. Es waren die Vampire, die sich am meisten fürchteten. Auch die menschlichen Schüler waren besorgt, aber sie schienen ihre Furcht im Griff zu haben.
Für mich ergab das alles keinen Sinn. Okay, es war wahrscheinlicher, dass die Vampire eher verstanden, dass es diese Geister wirklich gab und sie eine potenzielle Gefahr darstellten. Aber ich hatte von keinem einzigen menschlichen Schüler gehört, dass er sich über die Vorstellung lustig gemacht hätte, dass es angeblich Geister gab, ebenso wenig wie irgendjemand nach dem Herbstball daran zweifelte, dass etwas Übernatürliches vor sich ging.
»Ist es nicht merkwürdig«, bemerkte ich eines Tages, als Vic und ich gemeinsam in der Bibliothek lernten, »dass nicht viel mehr Leute durchdrehen?«
»Wegen der Prüfungen? Glaub mir, ich drehe schon ganz ordentlich.«
»Nein, nicht wegen der Prüfungen. Wegen dieses … dieses Dings. Du weißt schon.«
»Wegen des Geistes?« Vic blickte nicht einmal von seinem Anatomie-Lehrbuch auf.
»Ja, wegen des Geistes. Dir scheint es ja ganz schön wenig auszumachen, dass du in einem Spukhaus lebst.«
»Ich habe schon immer in einem Spukhaus gelebt.« Vic zuckte mit den Schultern. »Das Gruselgefühl deswegen habe ich schon lange hinter mir.«
»Warte mal. Wie bitte?« Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ausgerechnet Vic mehr über die Geister wissen könnte als irgendeiner der Vampire in Evernight. »Euer Haus wird von einem … Geist heimgesucht?«
»Ja, da ist diese kalte Stelle auf dem Dachboden. Klassische spektrale Aktivität - niedrige Temperatur, seltsame Geräusche und die Tatsache, dass man es spürt , wie einen jemand beobachtet, obwohl gar keiner da ist. In meiner Familie wussten immer alle darüber Bescheid. An Halloween haben immer ein Haufen Leute bei uns geschlafen, und ich würde mal behaupten, dass es die coolste Party des ganzen Jahres war. Und das jedes Jahr.« Als ich ihn mit offenem Mund anstarrte, begann Vic zu lachen. »Viele Leute hier haben das Gleiche gesehen.«
»Den Geist in eurem Haus?«
»Die Geister in ihren Häusern. Oder in ihren Schulen. Kennst du dieses neue Mädchen Clementine? Sie schwört, dass ihre Großmutter ein Auto hat, in dem es spukt. Wie bei Stephen Kings Christine , oder? Ich würde zu gerne mal mit dem Ding fahren.«
»Woher weißt du das denn alles?«
Vic seufzte. »Sieh mal, während du deine ganze Zeit damit verbringst, mit Balthazar rumzumachen, Raquel sich in ihre Kunst-Projekte vergräbt und Ranulf sich mal wieder mit den Mythen und Legenden der Wikinger beschäftigt, mache ich etwas anderes. Etwas ganz Verrücktes. Ich nenne es: ›sich mit anderen Menschen unterhalten.‹ Und bei dieser wundervollen Tätigkeit erfahre ich an einem einzigen Tag zwei oder drei wichtige Dinge über andere menschliche Wesen. Wissenschaftler haben vor, meine Methode zu untersuchen.«
»Ach, halt den Mund.« Ich gab ihm einen nett gemeinten Stoß, und er lachte wieder. Im Stillen jedoch versuchte ich, mir auf all diese Neuigkeiten einen Reim zu machen. Natürlich wusste Vic mehr über die übrigen menschlichen Schüler als sonst irgendwer hier, denn er war der kontaktfreudigste Typ der ganzen Schule. Selbst einige der Vampire, die Vic zuerst von oben herab behandelt hatten, sprachen schließlich hin und wieder mit ihm. »Und haben diese Geister jemals jemandem etwas getan?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich zum Beispiel habe unser Gespenst vom Dachboden immer irgendwie gemocht. Als ich klein war, bin ich immer hochgegangen und habe ihm Geschichten vorgelesen. Oder ihm meine neuen Spielsachen gezeigt. Es ist einfach nur eine alte Seele, die zwischen den Welten festhängt, oder? Warum sollte ich denn davor Angst haben?«
»Herabstürzende Eiszapfen?«
»Niemand wurde beim Herbstball verletzt. Ich glaube, der Geist wollte uns nur einen Schrecken einjagen. Ich glaube, der fand es ganz witzig, uns alle herumrennen und schreien zu sehen.«
»Vielleicht.«
Ich wäre wahrscheinlich beruhigter gewesen, wenn ich nicht Raquels Geschichte gehört hätte.
Abends vor dem Einschlafen oder auch oft nachts dachte ich zumeist an Lucas. Manchmal erinnerte ich mich an unsere gemeinsame Zeit, manchmal malte ich mir Dinge aus, oder ich fragte mich einfach, wo er wohl steckte und ob er guter Dinge und wohlauf wäre. In der Nacht nach der letzten Abschlussprüfung war das anders. Mich überwältigten die Erschöpfung und die Niedergeschlagenheit, weil ich wusste, dass es noch
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