Ewige Versuchung - 5
nicht am einfachsten, jetzt zu verschwinden, nachdem er wusste, dass Rupert seinen Aufenthaltsort kannte? Er könnte irgendwohin gehen, wo Rupert ihn niemals fände.
Aber vielleicht war er es auch leid und wollte das beenden, was immer zwischen ihnen existieren mochte. Musste wirklich einer von ihnen sterben, damit es aufhörte?
Sie wollte nicht, dass Rupert starb. Und obgleich es sie wohl zu einer Verräterin machte, wünschte sie Temple ebenso wenig den Tod. Sie wollte, dass überhaupt niemand starb – auch nicht sie selbst. Sie wusste, dass Temple allein aufgrund seiner Vampirnatur fähig war, zu morden. Aber Rupert? Sie konnte nicht glauben, dass er den Boten umgebracht hatte. Das konnte sie einfach nicht.
Temple hingegen glaubte es, das ließ sich nicht leugnen. Mit ihrem Verdacht, er wäre der Mörder gewesen, hatte sie ihn provozieren wollen. Doch im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass er ihr die Wahrheit sagte. Ganz gleich, wozu er imstande sein mochte, dieser Tote lastete nicht auf seiner Seele.
Vivian warf ihm nicht vor, dass er wütend auf sie war, aber er hätte wissen müssen, dass sie alles täte, was sie konnte, um Rupert zu helfen. Erwartete er, dass sie ihm blind folgte? Dass sie alles aufgab, was sie gelernt hatte, woran sie glaubte, weil sie ein paar Nächte in seinem Bett verbracht hatte? Umgekehrt erwartete sie nicht von ihm, ihr so leicht nachzugeben.
Obschon es erfreulich wäre. Und er brauchte nicht so grausam zu sein, indem er es darstellte, als hätte sie ihn verraten.
O Gott! Diese Grübelei war nervenzehrend. Vivian war das Nichtstun nicht gewöhnt, und trotz ihrer zahlreichen Verletzungen machte es ihr zu schaffen, nur herumzuliegen. Sie brauchte eine Beschäftigung, die sie von ihrem Schmerz und den Gedanken an Temple und Rupert ablenkte.
Also nahm sie sich das Türschloss vor. Sie benötigte fast eine Viertelstunde, aber schließlich hatte sie es aufgebrochen.
Gewiss würde Temple sie ans Bett ketten oder sich irgendeine ähnlich schändliche Maßnahme einfallen lassen, wenn er entdeckte, was sie getan hatte. In ihrer gegenwärtigen Verfassung konnte sie unmöglich fliehen, und sie wollte lediglich etwas zu essen holen – nicht ihn verärgern. Jedenfalls nicht hauptsächlich.
Eines der Mädchen hatte ihr frühmorgens Krücken gebracht, mit denen sie sich nun die breite Treppe ins Erdgeschoss hinunterkämpfte. Weit und breit war niemand zu sehen. Der Frühstückstisch im Speisesalon war längst abgedeckt.
Langsam und ungelenk begab Vivian sich zur hinteren Treppe, die in die Küche führte. Vor Anstrengung taten ihr alle Knochen weh, bis sie dort ankam, doch der Duft von frischen Scones und Tee war es allemal wert.
»Nun mach schon, Mädchen!«, hörte sie eine gereizte Frauenstimme rufen. »Steig einfach herunter!«
Mehrere andere Frauenstimmen pflichteten ihr bei, bis auf eine unglückliche, die erwiderte: »Ich kann nicht!«
Vivian humpelte in die Küche, wo mehrere der Bediensteten um eine Leiter versammelt waren. Oben auf der Leiter stand eine junge Frau, die sich an einen Gusseisentopf an der Wand klammerte, als hinge ihr Leben davon ab.
»Was ist los?«, wollte Vivian wissen.
Alle drehten sich erschrocken zu ihr um. »Miss Vivian!«, rief eine der Frauen, die Shannon hieß. Sie war groß und drall, hatte zimtbraunes Haar und moosgrüne Augen. »Sie sollten nicht hier sein.«
Vivian lächelte. »Ich bin lieber hier als allein in meinem Zimmer.« Dann nickte sie zu dem Mädchen auf der Leiter. »Was ist passiert?«
Ein anderes Mädchen schnaubte spöttisch. »Agnes ist hinaufgeklettert, um den Topf zu holen, und jetzt will sie nicht wieder herunterkommen.«
Agnes war ein junges Ding und dürfte selbst im klatschnassen Zustand höchstens neunzig Pfund wiegen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie zu Vivian sah. »Verzeihen Sie, dass ich so feige bin, Miss!«
Vivian schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir alle haben unsere Ängste, Agnes. Ginge es dir besser, wenn ich zu dir hinaufsteige?«
Zunächst starrte Agnes sie mit diesem staunenden Blick an, mit dem die Mädchen Vivian immerzu ansahen. »Ach, Miss, das ist wirklich nicht …«
Vivian hörte nicht weiter hin. Alle Bediensteten plapperten aufgeregt, als sie auf sie zugehumpelt kam. Einige schalten die arme Agnes, worauf sie wieder in Tränen ausbrach, während andere Vivian auszureden versuchten, in ihrer Verfassung auf die Leiter zu steigen. Sie begriffen schlicht nicht, dass sie keine gewöhnliche
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