Ewige Versuchung - 5
hatte, war es nicht. Der Zauber, den sie auf ihn ausübte, hatte nichts damit zu tun, was sie war, sondern wer sie war. Er achtete ihre Entschlossenheit und Stärke. Zugleich weckte ihre Verwundbarkeit den Wunsch in ihm, sie vor der ganzen Welt zu beschützen. Woran ihr Herz hing, das verteidigte sie mit der Grimmigkeit einer Löwin. Er wünschte sich ihren Ingrimm, ihre Zärtlichkeit, alles, was sie ihm zu geben bereit war, jeden noch so kleinen Fetzen an Zuneigung.
Sie ängstigte ihn, doch obgleich sein Verstand sagte, er sollte sich von ihr fernhalten, weigerte sein Herz sich, zu glauben, dass sie eine Gefahr für ihn darstellte.
Sein Plan hatte so ausgesehen, sie als Lockvogel für Villiers zu benutzen, als Druckmittel gegen ihn, und zu diesem Zweck hätte er sie notfalls auch bedroht. Aber das konnte er nicht mehr. Vivian war schon häufiger benutzt worden, als irgendjemand es in seinem Leben sollte.
Daher würde er sich Villiers ohne sie als Schutzschild stellen. Und nun, da seine Freunde bei ihm waren, gab es keinen Grund, die Konfrontation mit dem Schurken länger aufzuschieben.
Mit dieser Erkenntnis stieg Temple aus dem Bett, wusch sich und zog eine schlichte Hose sowie ein frisches weißes Hemd an, dessen Bänder er oben offen ließ. Hier war es unnötig, auf modische Feinheiten zu achten.
Sein Haar war noch nass, als er sich auf die Suche nach Vivian begab. Er ahnte bereits, wo er sie finden würde. Nachdem sie einige Zeit mit den Frauen an der Schule verbracht hatte, begann sie, eigenhändig über Lilith nachzuforschen. Tat sie es, weil sie Näheres über den Schwesternorden oder mehr über ihn erfahren wollte? Das sollte ihm eigentlich gleich sein, war es aber nicht.
Vielleicht, raunte eine dunkle Stimme in seinem Kopf, grub sie alles aus, was sie konnte, um Villiers zu helfen.
Temple beschloss, nicht länger auf seinen Kopf zu hören.
Tatsächlich entdeckte er sie in der Bibliothek, wo sie an einem der großen Tische saß, an denen die Schülerinnen während der Schulzeit ihre Aufgaben erledigten. Und sie war ganz allein. Ihre Kleidung war beinahe identisch mit seiner, nur meinte er, dass sie sehr viel besser darin aussah. Ihr Haar, wie üblich zu einem Zopf geflochten, glühte rot unter dem matten Lampenschein.
»Du brauchst mehr Licht«, stellte er fest, »sonst überanstrengt das Lesen deine Augen.«
Vivian blickte erschrocken auf und wurde rot, als sie ihn sah. Offenbar hatte sie ihn nicht kommen gehört, und gewiss schalt sie sich dafür, obwohl sie beide wussten, dass er sich anschleichen konnte wie eine Katze.
War ihre Erinnerung an den Liebesakt noch genauso frisch wie seine? Ihr Duft lockte ihn an, weckte den Wunsch, sein Gesicht
in ihrer Nackenbeuge zu vergraben und ihr Aroma tief einzuatmen.
Nicht zu vergessen, dass er sie gern tränke.
Als sie nichts erwiderte, nickte er zu dem dicken Wälzer, der vor ihr lag. »Ist das ein gutes Buch?«
»Es ist die Bibel.« Anscheinend schien sie die Antwort für ausreichend zu halten.
Lachend ging er näher zu ihr. »Das deute ich als Nein.«
»Lilith wird so gut wie gar nicht erwähnt.« Ihr mürrischer Blick hätte die meisten Männer eingeschüchtert. Temple hingegen fand ihn charmant.
»Das liegt daran, dass du die falsche Bibel liest. In englischsprachigen Versionen kommt sie selten vor. Du brauchst eine ältere Fassung.«
Prompt schaute sie zu den Regalen mit heiligen Schriften in unterschiedlichen Sprachen und über unterschiedliche Religionen. »Die kann ich nicht lesen.«
»Aber ich – einige von ihnen zumindest.«
Überrascht sah sie wieder zu ihm. »Bietest du mir deine Hilfe an?«
»Ja.«
»Warum?«, fragte sie misstrauisch. »Was hast du vor, Vampir?«
Er liebte es, wenn sie ihn so nannte. Es war wie ein Kosename, den sie allein bei ihm verwendete. Sie wählte die Anrede, weil sie unpersönlich bleiben wollte, erreichte jedoch das Gegenteil damit, wie ihr vielleicht noch nicht klar war.
Temple hockte sich auf den Tisch und schwang sich so herum, dass er ihr gegenübersaß, die Beine über der Kante baumelnd. »Es gibt etwas, worüber ich mit dir reden möchte.«
Wieder wandte sie den Blick ab. »Wenn es darum geht, dass ich letzte Nacht weggelaufen …«
»Darum geht es nicht«, fiel er ihr ins Wort.
Auf seinen ernsten Tonfall hin schlug sie die schwere staubige Bibel zu, schob sie beiseite und hockte sich neben ihn auf den Tisch, wo sie nun Schenkel an Schenkel, Hüfte an Hüfte, Schulter an Schulter
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