Exit Mosel
Gesicht der Frau wahr, die ihnen gegenüber mit zusammengepressten Knien und steif aufgerichtetem Rücken auf der Kante eines Sessels saß. Walde schätzte sie auf Anfang vierzig. Ob sie realisierte, was Gabi ihr mit vorsichtig gewählten Worten berichtete, war ihr nicht anzumerken. Aber sie schien bereits in der Tür erfasst zu haben, was ihr Besuch bedeutete. Für alles andere hätte auch ein Anruf genügt.
Auf dem glatt polierten Tisch lag ein Fernsehprogramm. Der Fernseher an der gegenüberliegenden Wand war nicht einmal auf Standby geschaltet. Ein edel anmutender Plattenspieler stand auf der Kommode, daneben angelehnt ein paar LP-Hüllen auf dem hellen Teppich. Walde erinnerte sich, dass er früher, wenn er bei Leuten zum ersten Mal zu Besuch war, immer gerne die Plattensammlung durchgesehen und dabei einiges über den Besitzer oder die Besitzerin herauszufinden geglaubt hatte.
Hier auf dem Sofa hätten die beiden um diese Zeit wahrscheinlich gesessen, wenn nicht geschehen wäre, was geschehen war.
»Ist er es?« Für diese drei Worte schien die Frau ihre ganze Kraft zu brauchen.
»Wir können nicht definitiv sagen, um wen es sich bei der Person handelt«, hörte er Gabi behutsam sagen. »Bei welchem Zahnarzt war Ihr Mann in Behandlung?«
Als Marlene Roth den Namen des Zahnarztes nannte, nahm Walde seinen Notizblock heraus, froh, beim Schreiben die Frau nicht anschauen zu müssen, bei der die Informationen der beiden fremden Polizisten auf ihrem Sofa noch nicht so ganz angekommen zu sein schienen.
Sie berichtete, wie sie tags zuvor am späten Abend unruhig geworden war, vergeblich versucht hatte, ihren Mann zu erreichen, wie sie später in der Geschäftsstelle der Linken erfahren hatte, dass er dort trotz Verabredung nicht erschienen war, in den Krankenhäusern angerufen hatte, am frühen Morgen die Supermärkte abgefahren war, bei denen ihr Mann regelmäßig Lebensmittel für die Tafel abholte. Für diese Einrichtung engagierte er sich ehrenamtlich. Später, als er auch nicht an seiner Arbeitsstelle bei der Caritas erschienen war, hatte sie eine Vermisstenmeldung bei der Polizei aufgegeben.
An diesem Punkt erwartete Walde einen Zusammenbruch, aber er blieb aus. Gabi konnte Marlene Roth überreden, eine in Trier lebende Schwester anzurufen, die zusagte, gleich zu ihr zu kommen.
Als Gabi nach dem Engagement ihres Mannes bei den Linken fragte, berichtete sie, dass er in den letzten Monaten hin und wieder auf Versammlungen der Partei gegangen war und sich eher widerstrebend bereit erklärt habe, auf einem der hinteren Plätze der Wahlliste zum Stadtrat zu kandidieren. Gestern Abend wollte er beim Plakatieren helfen, war aber nicht beim Wahlbüro erschienen. Den weitaus größeren Teil seiner Freizeit widme ihr Mann der Tafel, einer Organisation, die an zwei Tagen in der Woche Lebensmittel an Bedürftige abgab und darüber hinaus verschiedene Einrichtungen, darunter Sozialküchen und Kindergärten, unterstützte. Er hole zweimal die Woche in aller Frühe Lebensmittelspenden bei Supermärkten und Großhändlern ab und habe sich eigens dafür den Renault Kangoo zugelegt. Sie selbst habe einen Teilzeitjob in der Schreibwarenabteilung eines Kaufhauses.
Gabi vermied Fragen nach eventuellen Problemen ihres Mannes, nach Feinden oder sonstigen Schwierigkeiten. Umgekehrt fragte die Frau ebenfalls nicht nach den näheren Umständen, unter denen der Wagen ihres Mannes aufgefunden worden war, geschweige denn nach Details der Leiche, die sich darin befunden hatte.
Gabi ließ sich ein Bild des Vermissten geben. Es zeigte einen circa vierzigjährigen Mann mit dunklen Augen und Zappabärtchen, der triumphierend ein Plattencover in die Kamera hielt.
Als es klingelte und kurz darauf Marlene Roths Schwester das Wohnzimmer betrat, erhoben sich Gabi und Walde, um sich zu verabschieden.
Im Treppenhaus war von oben ein Schluchzen zu hören.
»Sie lässt es endlich raus«, sagte Gabi seufzend.
Auf der Fahrt zurück in die Innenstadt sagten beide kein Wort. Walde brach das Schweigen erst, als er seine Kollegin bat, ihn in der Nähe des Hauptmarktes aussteigen zu lassen.
»Du willst noch nicht nach Hause?«, fragte Gabi überrascht.
»Doch, aber vorher schaue ich noch bei Uli rein.«
Gabi sah auf ihre Uhr. »Ich könnte auch noch was essen.«
Vom Turm von St. Gangolf läutete eine Glocke, als Walde und Gabi von der Jakobstraße auf den verlassenen Platz einbogen. In der Gerüchteküche befanden sich neben Waldes Freunden
Weitere Kostenlose Bücher